Während in Deutschland bereits über 40% der Bevölkerung eine Impfdosis erhalten hat, wurden in den allermeisten Ländern Afrikas erst 1-5% der Menschen geimpft. 75% aller Impfungen wurden in nur 10 Ländern durchgeführt. Das Resultat: Während bei uns bald Kinder geimpft werden, sterben in anderen Ländern immer noch Health Care Worker, die COVID-19-Patienten versorgen. Der Generaldirektor der WHO spricht von einem „katastrophalen moralischen Versagen“ reicher Ländern und einem Zustand der „Vaccine Apartheid“. Wir wollen uns in diesem Topic of the Month genauer damit beschäftigen, was gegen die ungleiche Verteilung von Impfstoffen unternommen werden kann. Unter jedem Thema findet ihr weitere Links mit ausführlicheren Artikeln und weiteren Informationen.
Wie ist die Ungleichheit entstanden?
Im Mai vergangenen Jahres erklärten Emmanuel Macron und Angela Merkel, der COVID-19-Impfstoff werde „ein einzigartiges globales öffentliches Gut“ und bekräftigten: „Wir sind nicht wirklich sicher, solange nicht alle sicher sind.“ Dieser Ankündigung folgten nationale bilaterale Abkommen mit mehreren Pharmakonzernen, sodass die Kontingente reicher Industrienationen heute ausreichen, um ihre Bevölkerungen mehrmals zu impfen. Währenddessen hatten viele Middle- und Low-Income-Countries keine Möglichkeit, Impfstoffe für ihre Bevölkerung zu organisieren.
Wieso ist das ein Problem? Eine faire Verteilung der vorhandenen und zukünftig verfügbaren Impfdosen gebietet nicht nur die Moral, sondern stellt auch eine Grundvorraussetzung für die Kontrolle der Pandemie dar. Die Gefahr neuer gefährlicherer Varianten ist weiterhin groß und könnte im schlimmsten Fall die bisher erreichten Fortschritte in reicheren Ländern gefährden. Je mehr Menschen sich weiterhin infizieren, desto größer das Risiko.
Die Krise wirft die Welt im Kampf gegen AIDS, Malaria und andere Erkrankungen um Jahre zurück. Schätzungsweise sind bereits jetzt 150 Millionen Menschen wieder in die extreme Armut gerutscht. Der direkte Nutzen einer Impfung wird auf $2900 geschätzt, bei Kosten von nur $3 pro Person (AstraZeneca).
Die Pandemie hat bisher einen wirtschaftlichen Schaden von über $11 Billionen angerichtet. Impfstoffhersteller haben die Produktion allerdings vorerst darauf ausgerichtet, die Bestellungen reicher Industrienationen abzuarbeiten. Eine Arbeit in Science zeigt, dass die Weltwirtschaft $5 Billionen hätte sparen können, wenn die Produktion von der internationalen Gemeinschaft von Anfang an für einen globalen Bedarf ausgelegt worden wäre. Durch die Vernetzung der Weltwirtschaft haben lokale Ausbrüche und Krisen globale Auswirkungen.
Es liegt also auch im Interesse reicher Länder, die Pandemie nicht nur im eigenen Land, sondern weltweit so schnell wie möglich zu beenden. Jeder Monat zählt jetzt, um moralische, gesundheitliche und finanzielle Schäden zu begrenzen.
Was ist COVAX?
Vor nicht allzu langer Zeit sah sich die Welt bereits schon einmal mit der Gefahr einer Pandemie konfrontiert: H1N1, die Schweinegrippe im Jahr 2009. Innerhalb weniger Monate wurden wirksame Impfstoffe entwickelt. Reichere Ländern bestellten diese mittels bilateraler Abkommen in großen Mengen vor und legten Vorräte an, sodass ärmere Länder keinen Zugang hatten. Sounds familiar?
Um eine Wiederholung dieses kollektiven Versagens zu verhindern, gründete die WHO mit mehreren Partnerorganisationen im letzten Jahr COVAX – die Covid-19 Vaccines Global Access Facility. Dieser Mechanismus erwirbt für eine große Anzahl von Staaten (192) gebündelt aussichtsreiche Vakzine, um diese daraufhin zu einem vorher festgelegten Preis an die beteiligten Staaten zu verteilen. Ein gegenseitiges Wettbieten, Hochtreiben der Preise und Horten von Impfstoffen sollte so vermieden werden. Finanziert durch die Beiträge reicherer Länder bekommen 92 Low-Income-Countries, also Länder wie beispielsweise Mosambik oder Haiti, die Impfstoffe kostenlos zur Verfügung gestellt. Ohne diesen Mechanismus hätten diese Staaten kaum eine Möglichkeit ihre Bevölkerung flächendeckend zu impfen. Bis zum Jahresende sollen über COVAX 2 Milliarden Dosen verteilt werden. So sollen 20% der Weltbevölkerung geimpft werden, um zumindest sämtliche Health Care Worker und ältere Bevölkerungsgruppen zu schützen.
Wie gut funktioniert COVAX in der Praxis? Bisher konnten lediglich rund 70 Millionen Impfdosen verteilt werden, die gesetzten Ziele scheinen aktuell nur noch schwer erreichbar. In den letzten Wochen häuften sich die Probleme. Über 85% der von COVAX zu verteilenden Dosen wurden bisher von AstraZeneca in Kooperation mit dem Serum Institute of India, dem größtem Vakzinhersteller der Welt, bereitgestellt. Durch einen Exportstopp der indischen Regierung aufgrund der Lage im eigenen Land wird sich die Auslieferung der von COVAX bestellten Dosen bis zum Jahresende verzögern. Bis Ende Juni (!) fehlen bereits circa 190 Millionen Dosen. Somit fällt unerwartet der wichtigste Hersteller von Impfdosen für ärmere Länder aus und die bereits bestehende Ungleichheit wird sich in den nächsten Monaten weiter verstärken.
Wie könnten schnell mehr Impfdosen gerechter verteilt werden?
Reiche Länder können COVAX weiter finanziell unterstützen, damit die Initiative genügend Dosen bestellen kann. Aktuell fehlen im Budget circa $2 Milliarden. Unkomplizierte und schnelle Hilfe verspricht auch eine Aufteilung von Überkapazitäten reicher Staaten. Die USA sitzen beispielsweise auf knapp 80 Millionen Dosen AstraZeneca, einem Impfstoff, der in den USA bisher noch nicht einmal zugelassen ist. Deutschland und Frankreich haben zuletzt angekündigt jeweils 30 Millionen Dosen an COVAX zu spenden. Da reiche Länder zur Absicherung bei mehreren Herstellern vorbestellt haben, werden im Verlauf des Sommers große Kontingente frei – bis zu 1 Milliarden Dosen könnten so in den Umlauf gebracht werden. Angesichts der Unsicherheit bei der Frage nach Auffrischimpfungen weigern sich jedoch aktuell viele Staaten verpflichtende Zusagen zu machen.
Problematisch ist dabei die öffentliche Darstellung dieser gespendeten Dosen als Akt der Wohltätigkeit. Schließlich hatten andere Staaten meist gar nicht die Chance, ausreichend Dosen zu bestellen. Es bietet reichen Ländern die Möglichkeit zu behaupten, man habe ja bereits „etwas“ für die ärmeren Länder getan. Die Ungleichverteilung lässt sich über Spenden alleine nicht lösen, die WHO, NGOs und zahlreiche sich-entwickelnde Staaten fordern daher strukturelle Lösungen: Die globale Produktion von Impfstoffen muss massiv hochgefahren werden.
Produzierte Dosen müssen außerdem fairer verteilt werden. Das könnte beispielsweise über einen festen Anteil gehen, welcher garantiert an COVAX geliefert wird. Impfstoffe müssen überall auf der Welt in großer Menge produziert werden können. Für die Versorgung der Welt mit Impfstoffen stellt es eine große Gefahr dar, wenn einzelne Länder aufgrund eines nationalen Bedarfs Exportverbote verhängen können. Große Produktionsstätten in international gut vernetzten Ländern mit kleinen Bevölkerungen wie zum Beispiel Singapur oder Ruanda könnten dieses Problem zukünftig umgehen.
Der AstraZeneca-Impfstoff wird als Lizenzprodukt vom Serum Institute in Indien hergestellt. Die Firma hat eine Lizenz erteilt und danach vor Ort die Produktionstechnik etabliert. Ein Prozess, den man als Technologietransfer bezeichnet. Die WHO hat einen Technology Transfer Hub gegründet, der diesen Prozess vereinfachen soll.
Bereits im vergangenen Jahr gründete die WHO ein Forum, in dem Pharmafirmen freiwillig ihre Patente und ihr Know-How zur Verfügung stellen können, den COVID-19-Technology Access Pool. Andere Pharmafirmen und Forschungsgruppen können dieses Wissen gegen eine Gebühr nutzen, um schneller Impfstoffe und Diagnostik-Tools zu entwickeln. Die Initiative schlug allerdings fehl, denn bislang hat kein großes Pharmaunternehmen freiwillig Patente zur Verfügung gestellt.
Als Reaktion darauf reichten Südafrika und Indien einen Antrag bei der Welthandelsorganisation (WTO) ein. Dieser fordert, den Patentschutz für Impfstoffe und COVID-19-bezogene Therapien und Diagnostik-Tools für die Dauer der Pandemie aufzuheben. Ein ähnliches Vorgehen hat während der AIDS-Krise geholfen den Widerstand der Pharmafirmen zu brechen, Kooperationen einzugehen und Lizenzen an Generika-Hersteller zu vergeben. Der Preis der lebensrettenden Medikamente senkte sich daraufhin drastisch. Erstmals konnten Menschen weltweit gegen ihre HIV-Erkrankung behandelt werden. Auf der Karte könnt ihr sehen, wer die Patent-Waiver-Initiative bisher unterstützt – und wer nicht. Deutschland gilt als einer der größten Gegner der Initiative.
Global Health – Your time to shine
Was wir bei der Verteilung der Impfstoffe erleben ist ein Rückfall in den Nationalismus, den Impfnationalismus: Die Staaten der Welt treten in einem Wettbewerb um Impfstoffe gegeneinander an. Der Mächtigste gewinnt, alle anderen verlieren. Ein Nullsummenspiel. Es wird Zeit, dass sich reiche Länder wieder auf das Credo des Multilateralismus zurückbesinnen: Zusammen sind wir stärker, sicherer und innovativer als alleine.
Der politische Druck auf die Regierungen reicher Länder muss beim Thema Vaccine Inequity hoch bleiben. Die meisten Handlungsoptionen liegen schließlich im Einflussbereich reicher Länder. Diese müssen die Pandemie weltweit mit der gleichen Entschlossenheit und Bereitschaft für war-like efforts bekämpfen, wie sie dies bereits zuhause getan haben. Auch und gerade dann, wenn die Zahlen im eigenen Land bereits stark gesunken sind. Die Pandemie ist nirgendwo vorbei bis sie überall vorbei ist.
Global Health steht für globale Solidarität, für das Bestreben das Schicksal eines jeden Menschen auf der Welt zu verbessern und den Zugang zu einer menschenwürdigen Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Nun ist der Moment, in dem diese Grundsätze angewendet und zu konkreten politischen Forderungen werden müssen.
Unicef Dashboard zum Vaccine Market
Science Artikel: Vier Strategien zu mehr Gerechtigkeit
WHO Vaccine Technology Transfer Hub
Wie funktioniert dieser transfer hub?
Nature Artikel zum patent waiver
Quellen:
1https://www.economist.com/leaders/2021/05/15/ten-million-reasons-to-vaccinate-the-world
2https://science.sciencemag.org/content/371/6534/1107
6https://www.nature.com/articles/d41586-021-01242-1
Bild 2: https://twitter.com/astroehlein/status/1395399042658668549
Bild 3: https://twitter.com/paimadhu/status/1395144103529168898