* Definition Intersektionalität: ”Der Begriff Intersektionalität (englisch: Intersectionality) geht auf das englische Wort „intersection“, zu Deutsch Kreuzung oder Schnittpunkt, zurück. Mit dem Konzept Intersektionalität wird die Analyse der Überschneidungen und des Zusammenwirkens von verschiedenen Diskriminierungsformen bezeichnet. Dahinter steht die Idee, dass eine Person von mehreren Diskriminierungsformen oder mehreren Formen sozialer Ungleichheit betroffen sein kann. So wird z.B. eine schwarze lesbische Frau, nicht nur als Lesbe, sondern auch als Frau und als schwarze Person diskriminiert. Die verschiedenen Diskriminierungserfahrungen lassen sich dabei nicht einfach nur addieren, sondern entsteht eine spezifische Form der Unterdrückung.”(1)
Heute möchte ich euch von Audre Lorde erzählen. Sie war eine US-amerikanische Schriftstellerin und eine der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre.“Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter”, so beschrieb sie ihre vielfältige Identität, die sie weder in der schwarzen antirassistischen Bewegung noch in der weiß geprägten Frauenbewegung angemessen repräsentiert sah. Einen Ausschnitt aus ihrem Buch “Auf Leben und Tod. Krebstagebuch” werde ich jetzt kurz mit euch diskutieren.
Folgenden Situation: Es ist der 22. September 1978. Wir befinden uns im Krankenhaus auf der gynäkologischen Station. Audre Lorde erhielt vor wenigen Tagen eine einseitige radikale Mastektomie nach Mamma-Ca und beschreibt ihre Erfahrungen der vergangen Tage. Die “Abfertigung” im Krankenhaus sei entmenschlichend gewesen und sie fühle sich als “dunkles lebendiges Opfer an einem weißen Ort”. Sie fühle sich objektifiziert und als Frau reduziert auf ihre fehlende Brust. Eine “freundlich wirkende Frau” von “Reach for Recovery”, einer internationalen Brustkrebs-Selbsthilfegruppe, kommt in ihr Zimmer und versicherte ihr: “Sie sind noch genauso viel wert wie vorher, weil Sie noch genauso gut aussehen können! Jetzt eine Lammwolle, dann so bald wie möglich eine gute Prothese – und niemand wird den Unterschied jemals bemerken.” Und dann bezüglich des Liebeslebens: “In den sechs Jahren nach meiner Operation habe ich meinen zweiten Mann geheiratet und begraben – Gott segne ihn -, und jetzt habe ich einen wunderbaren Freund. Es gibt nichts was ich vorher gemacht habe und jetzt nicht auch noch machen würde (…).”, während Audre Lorde dachte: “Wie ist es wohl, eine Frau zu lieben und sie nur mit einer Brust zu berühren? Wie werden wir je wieder so vollkommen zusammenpassen? Wie wird es wohl sein meinen Körper zu lieben? Wird sie meinen Körper immer noch köstlich finden?”. Nachdem sich Audre Lorde gegen die Prothese und für “nur” eine Brust entscheiden hatte, teilte ihr eine der Schwestern mit: “Sie werden sich viel wohler [mit Prothese] fühlen. Und außerdem sehen wir es wirklich gern, wenn sie etwas tragen, wenigstens wenn sie in die Sprechstunde kommen. Sonst schadet es der Praxismoral.”
Audre Cordes Krebstagebuch ist auf vielen Ebenen bewegend und zeigt, teils sehr explizit und teils eher implizit, einen ableistischen, sexistischen, heteronormativen, paternalistischen, entmündigenden, rassistischen und eugenischen Umgang mit Patient*innen im Krankenhaus, wie er auch heute noch passiert. Es gibt etliche dicke Arbeiten, die sich mit ihren Texten beschäftigen, aber ich möchte versuchen euch ein paar kleine Denkanstöße aus der Diskussion mitzugeben. Stellen wir uns zuerst einmal folgend Fragen: Was macht es mit einer Frau, vollkommen vulnerabilisert nach Krebsdiagnose und Mastektomie, wenn der “Wiederaneignung ihrer Selbst und ihres Körperbildes eine derartige Bedeutung beimessen wird”, wenn “ihre Identität von einer äußerlichen Definition abhängig” gemacht wird? Sie erhält keine Chance sich mit der realen Gegenwart auseinander zu setzen und schwelgt stattdessen in einer physisch unwiederbringlichen Vergangenheit; Sie fühlt sich unvollkommen, fehlerhaft, entsexualisiert und kaputt; Sie bekommt zu verstehen, dass eine Mastektomie ein rein kosmetisches Ereignis sei, und die potentiell tödliche Krebsdiagnose rückt in den Hintergrund.
Die viel wichtigeren Fragen sind doch: Muss eine Brustprothese nach Amputation die Norm sein? Muss eine Frau zwei Brüste haben? Kann eine Frau keinen Sex haben, wenn sie nur eine Brust hat? Die Einstellung der Frau von “Reach for Recovery”, dass eine Prothese das heterosexuelle Liebesleben der Frau aufrechterhält, zeigt eine versteckte eugenische Logik – und zwar, dass mensch nur Sex haben sollte, wenn mensch einen (scheinbar) gesunden Körper hat. Nach meinem anatomischen Verständnis braucht frau zur Penetration eigentlich keine Brüste.
Long Story short: Auch eine gutgemeinte Prothese kann eine Form der Unterdrückung sein und mehr Schaden als Heilung bewirken. Sie macht Frauen nach Mastektomie unsichtbar und illegitimiert ihr Dasein. Sie können Frauen Gefühle der Angst, Wut, Schmerz, Verzweiflung, Wertlosigkeit und Einsamkeit geben.
Deshalb: Seid empathisch, sprecht mit euren Patient*innen und hinterfragt Normbilder und Ziele von Medizin, Genesung und Rehabilitation.