Die Verbrechen der kolonialen Medizin

Oft wird die geschichtliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit als unzureichend beschrieben. Insbesondere die Verbrechen und gewaltsamen Gräueltaten der ehemaligen Kolonisierenden geraten dabei in Vergessenheit. Die Kritische Medizin München möchte in diesem Text einen Einblick in die gewaltsame Geschichte der Kolonialmedizin bieten und somit einen Beitrag zu einer postkolonialen Erinnerungs- und Aufarbeitungskultur leisten.

Ein Text von Anastasia Akhalkatsi, David Kamiab Hesari, Hannah Kilgenstein, Julius Mutschler, Julius Poppel, Johanna Schwarz und Lorena Wanger Kritische Medizin München

Die koloniale Vergangenheit Deutschlands ist ein verdrängtes Kapitel seiner Geschichte, denn die Verbrechen der deutschen Kolonialherrschaft finden kaum Berücksichtigung in der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik. Erst 2018 – 100 Jahre nach dem offiziellen Ende der deutschen Kolonialherrschaft im Rahmen des Versailler Friedensvertrags – fand die Aufarbeitung des Kolonialismus in einem Koalitionsvertrag überhaupt Erwähnung [1]. Eine politische Positionierung bleibt dennoch bis heute weitestgehend aus. Dabei findet auf kultureller Ebene schon seit längerer Zeit eine postkoloniale Debatte statt, etwa um den Kern des neuen Humboldt Forums in Berlin oder um die Frage nach Raubkunst in deutschen Museen im Rahmen der Provenienzforschung. Auch der Streit über den nicht aufgearbeiteten Genozid an den Ovaherero und Nama zwischen 1904 und 1908 ist ein Thema, welches es zumindest hin und wieder über die öffentliche Wahrnehmungsschwelle schafft. Hierbei werden auch die Stimmen der ehemals betroffenen Länder lauter. Namibia verhandelt bereits seit 2015 mit Deutschland über Reparationen aufgrund des Genozids. So reichten beispielsweise Vertreter:innen der Ovaherero und Nama in den USA 2017 Klage gegen Deutschland ein, woraufhin das Bezirksgericht in New York im Januar 2017 einer Sammelklage gegen die deutsche Regierung stattgab. Die Klageschrift spricht von über 100.000 Todesopfern. Im März 2017 wurde außerdem bekannt, dass die Regierung in Windhoek eine Klage gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag prüft. In diesem Zusammenhang war von einer Entschädigungssumme in Höhe von 30 Milliarden Dollar die Rede [2]. Des Weiteren wirft Tansania deutschen Truppen Kriegsverbrechen bei der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands Anfang des 20. Jahrhunderts vor und will Entschädigungen verlangen.  Stimmen und Forderungen nach Reparationszahlungen sowie einer öffentlichen Stellungnahme werden somit lauter.

Die kritische Reflexion der Tatsache, dass auch die Medizin eine wichtige Rolle in der Legitimierung und Umsetzung deutscher Kolonialbestreben innehatte sowie selbst Verbrechen im Zuge wissenschaftlicher Forschung ermöglichte, ist ein zentrales Anliegen dieser Rubrik. Wir fordern außerdem eine tiefergehende Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit der Medizin, da eine öffentliche Stellungnahme der entsprechenden Institute, Kliniken und Forschungseinrichtungen weitestgehend ausbleibt. In unserem Text zur Geschichte der Tropenmedizin findet außerdem explizit die Person Robert Koch Erwähnung, die stellvertretend für die mangelhafte, wenn nicht ganz ausbleibende kritische Betrachtung der kolonialen Medizingeschichte stehen kann. Für Koch selbst waren seine Forschungsaufenthalte in den ehemaligen Kolonien „glückliche Tage“ mit  „ungestörte{n} Forschungsbedingungen“. Im Gegensatz zu Kochs schwärmerischen Beschreibungen nennt das Robert-Koch-Institut seine Forschungsreisen als das „dunkelste Kapitel seiner Laufbahn“ [4]. Doch auch diese Verurteilung bildet die Wahrheit nicht adäquat ab. Zahlreiche Gedenktafeln und Ehrungen tragen den Namen des Arztes. Was auf der Strecke bleibt ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dessen Vergangenheit. Der Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer forderte im Sommer 2020 sogar, dass sich das Robert-Koch-Institut fragen sollte, ob der Name für das 21. Jahrhundert noch geeignet sei [4]. Auch auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin (DTG) findet sich keine Positionierung zur Kolonialzeit, geschweige denn eine explizite Aussage zu den Verbrechen der kolonialen Medizin. Es ist uns daher ein Anliegen, in diesem Text einen Beitrag zur postkolonialen Aufarbeitung in der Medizin zu leisten. 

Die Schlafkrankheit (Trypanosomiasis)

Am Beispiel der Trypanosomiasis verdeutlichen sich viele Aspekte kolonialer Medizin: die Gefährdung des Kolonisationsprozesses durch Infektionskrankheiten, der wissenschaftliche Fokus der neu entstandenen Bakteriologie auf die Entdeckung und Behandlung eines bestimmten Krankheitserregers und die Legitimation des Missbrauchs von einheimischen Erkrankten für Humanexperimente in geschaffenen Internierungslagern durch “rassische” Überlegenheitsvorstellungen.

Die Schlafkrankheit – oft auch als Afrikanische Schlafkrankheit bezeichnet – ist eine Parasitose, die durch den Stich der in den tropischen Gebieten des afrikanischen Kontinents lebenden Tsetse-Fliege übertragen wird. Es werden zwei Formen unterschieden, welche durch unterschiedliche Erregerspezies ausgelöst werden, nämlich die ost- und westafrikanische Schlafkrankheit. Bei der Erkrankung lassen sich zwei Stadien einteilen: Zu Beginn zeigen sich grippeähnliche Symptome sowie lokale Hautreaktionen und Lymphadenopathien. Im weiteren Verlauf, der Wochen bis Jahre dauern kann, entwickelt sich, sofern keine Therapie erfolgt, eine progrediente Meningoenzephalitis, wobei typischerweise Schlafstörungen, Kataplexie und Koma auftreten können. Die Schlafkrankheit verläuft ohne entsprechende Behandlung letal. Diagnostisch lassen sich bereits im frühen Stadium mittels Blutausstrich (vor allem mittels des „dicken Tropfens“) typische einzellige Flagellaten erkennen. Heutzutage gibt es für beide Stadien und beide Erregertypen entsprechende medikamentöse Therapiemöglichkeiten, beispielsweise mit Suramin. Allerdings ist aufgrund der Toxizität der Medikamente eine stationäre Behandlung notwendig. Eine Prophylaxe oder Impfung existiert derzeit nicht [5]. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich in Ostafrika eine Epidemie dieser Krankheit aus, im Zuge derer zwischen 1901 und 1905 rund eine Viertel Millionen Menschen verstarben. Diese Krankheitswelle stellte eine grundlegende Gefährdung des Kolonisationsprozesses dar, da sie einen Großteil der Arbeitskräfte, die zum Ausbau der Kolonien benötigt wurden, und auch die Kolonisierenden selbst gesundheitlich bedrohte.  So entstand ein politisches und ökonomisches Interesse an der Erforschung, Behandlung und Prävention der Schlafkrankheit [6]. 1906 begab sich daher unter anderem der deutsche Wissenschaftler Robert Koch auf eine Forschungsexpedition in das heutige Tansania. Dort arbeitete er zunächst an der deutschen Forschungsstation Amani, die 1902 von dem deutschen Botaniker Franz Stuhlmann gegründet wurde und die sich in den darauffolgenden Jahren zu einem der wichtigsten Zentren globaler Wissenschaftsarbeit entwickelte. Zahlreiche Insekten- und Pflanzenarten wurden untersucht sowie Anbaumethoden und Ansätze zur Bekämpfung von Schädlingen und Krankheitsüberträgern erprobt. Koch verrichtete dort einen großen Teil seiner Forschungsarbeit zu Malaria, dem Rückfallfieber und auch der Schlafkrankheit [7]. Es fehlten jedoch ausreichend Versuchspersonen zur Erprobung potentieller Heilmittel. Koch wurde erst fündig als er die Grenze zur damals britischen Nachbarkolonie, das heutige Uganda, überschritt. Dort befand sich auf den Ssese-Inseln des Viktoriasees ein von den britischen Kolonialisten errichtetes Internierungslager mit tausenden von der Schlafkrankheit Betroffenen, in dem Koch ungestört mit verschiedenen Medikamenten experimentieren konnte. Er untersuchte verschiedene Dosierungen von Atoxyl, ein Derivat der Arsensäure, und steigerte diese trotz schwerer Nebenwirkungen, die von der Erblindung bis hin zum Tod reichten. Koch notierte dazu lediglich, dass da in den Konzentrationslagern eine genaue Beobachtung während längerer Zeit möglich sei, man hier am besten den empfehlenswerten Modus der Atoxylbehandlung ausfindig machen und beispielsweise auch eine etappenmäßige Therapie erproben könne [8].

„Man kann dazu übergehen, die ganze Bevölkerung verseuchter Gebiete in gesunde Gegenden zu versetzen; die infizierten Individuen würden dann, da die Sterblichkeit ohne Behandlung eine absolute sei, ausnahmslos zugrunde gehen, damit werde dann die Seuche erlöschen”, so Robert Koch.

Er experimentierte darüber hinaus auch mit anderen chemischen Präparaten. Nichtsdestotrotz dauerte es fast 20 Jahre, bis es der Firma Bayer 1916 mit der Entwicklung von Suramin (Handelsname: Germanin) gelang, ein erstes wirksames Medikament anzubieten. Die Entdeckung des Medikaments wurde massiv für kolonialrevisionistische und nationalsozialistische Propaganda verwendet und wird noch heute oft als eine Errungenschaft der deutschen Tropenmedizin betrachtet, obwohl für dessen Entstehung Humanversuche an Zwangsinternierten durchgeführt wurden [9].

Des Weiteren führte das transdisziplinäre Interesse an der Schlafkrankheit und dessen Erreger zu neuen geographischen und zoologischen Erkenntnissen, die einen Einfluss auf  die Seuchenbekämpfungsmaßnahmen hatten. So kam es beispielsweise zu umfangreichen Rodungsmaßnahmen sowie gewaltigen Umsiedlungen. „Man kann dazu übergehen, die ganze Bevölkerung verseuchter Gebiete in gesunde Gegenden zu versetzen; die infizierten Individuen würden dann, da die Sterblichkeit ohne Behandlung eine absolute sei, ausnahmslos zugrunde gehen, damit werde dann die Seuche erlöschen”, so Robert Koch [3]. Hier wird der imperialistische Machtanspruch der Wissenschaften und der Medizin im Besonderen auf eindrucksvolle Weise ersichtlich. 

Das wohl drastischste Beispiel in den deutschen Kolonien stellt dabei die gewaltsame Umsiedlung und Enteignung der Duala zwischen 1912 und 1914 im heutigen Kamerun dar. Mit Hilfe medizinischer Gutachten wurde die Vertreibung etlicher Menschen legitimiert. Begründet wurde dies als Maßnahme der Seuchenprävention sowie mit dem rassistischen Gedanken vom „kulturellen Wert“ eines ausschließlich von Weißen belebten Gebietes [10,11].

Muster kolonialer Medizin

Die Etablierung des “Rasse”-Begriffs

Die Anfänge der Tropenmedizin sind geprägt von Rassismus und gewaltsamen Herrschaftsverhältnissen. Dabei blickte die europäische Wissenschaft und insbesondere die Medizin bereits zu dieser Zeit auf eine Historie rassistischer Überzeugungen zurück. Das Konzept „Rasse“ ist heute eines der problematischsten und am häufigsten missverstanden Konzepte der modernen Biologie und Biomedizin [12]. „Rasse“ dient als Bezeichnung für jene Unterscheidungen menschlicher Gruppen anhand äußerlicher Merkmale wie Hautfarbe, Haarstruktur und Augenform, aber auch kultureller und sozialer Eigenschaften wie Sprache, Religion und Staatszugehörigkeit, die mit erblicher Stabilität und geographischer Herkunft verknüpft wurden. „Rasse ist als durch Rassifizierung und Rassismus hervorgebrachte soziale Kategorie zu verstehen [und ist  das] Resultat sozialer Sinnproduktion und institutionalisierter (Zu-)Ordnungen“ schreibt der Soziologe Dr. Tino Plümecke in seiner Arbeit „Rasse in der Ära der Genetik: Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften” [13]. So versuchten ab Ende des 17. Jahrhunderts Forscher wie Berniér, Blumenbach, Linné und Darwin eine rassische Kategorisierung und Hierarchisierung zu implementieren. Zum einen begegneten sie damit den damaligen Legitimationsproblemen für koloniale Eroberung, die Versklavung anderer Menschen sowie für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Ungleichverteilung von Gütern. Zum anderen stellte die Kategorisierung der Natur die Grundlage der damaligen wissenschaftlichen Praxis dar und das erlangte Wissen wurde als zentrales Mittel ihrer Beherrschung verstanden [13]. Im Sinne der sich in den Heimatländern ausbreitenden, sozialdarwinistischen Überzeugung einer “rassischen Überlegenheit” der Weißen gegenüber der schwarzen Bevölkerung der Kolonien, etablierten Forschende eine sogenannte “Rassenhygiene”. Im Vordergrund stand dabei zunächst die Trennung von Schwarzen und Weißen. Die Ärzte Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer spielten dabei eine wichtige Rolle, indem sie die Segregation und die teils gewaltsamen Umsiedlungen der einheimischen Bevölkerung zur Trennung der “Rassen” durch medizinische Gutachten legitimierten [14]. Dabei handelte es sich nicht um Seuchenbekämpfungsmaßnahmen, sondern um die tiefgreifende Überzeugung, dass es unterschiedliche “Rassen” gäbe und eine Vermischung dieser “Rassen” problematisch sei. So war es beispielsweise bereits zu Beginn des 20. Jahrunderts gesetzlich verboten, in den Kolonien sogenannte “Mischehen” einzugehen. Ploetz entwarf in seinem Buch “Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen” eine Gesellschaft, in der diese rassenhygienischen Ideen zur Anwendung kommen. Besonders die Annahme der intellektuellen Unterlegenheit der einheimischen Bevölkerung gegenüber der Kolonisierenden zeigte sich immer wieder durch gewaltsame Umerziehungs- und Missionierungsversuche. Die Vorstellung menschlicher “Rassen” und die Rolle der medizinischen Forschung wurden vor allem durch wissenschaftliche Arbeiten in den Kolonien vorangetrieben. Bereits 1905 gründete Alfred Ploetz beispielsweise die Gesellschaft für Rassenhygiene in Berlin, welche mitunter zu der Etablierung der Rassenhygiene und Eugenik in Deutschland führte [15].  Das Konstrukt grundlegender biologischer Unterschiede zwischen weißen und nicht-weißen Menschen und dessen Untermauerung durch scheinbar moderne medizinische Forschungsarbeit in den Kolonien prägte die imperialistischen Gesellschaften. Die Autorin Ruth Stiasny schreibt, dass die Wissenschaft Rassismus historisch und bis in die jüngere Vergangenheit theoretisch verfügbar machte. Dabei stellte die Wissenschaft nicht etwa eine Barriere für die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus dar, sondern war schließlich maßgeblich an ihrer Operationalisierung und Exekution beteiligt [16]. Auch der Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer sieht einen Zusammenhang zwischen den rassistischen Überzeugungen während der Kolonialzeit und den Grundzügen des Nationalsozialismus. Insbesondere der deutsche Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama, den er als den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts beschreibt, stellt für ihn einen zuvor nie dagewesenen Tabubruch dar [17]. Dieser Genozid sei ein “Vorläufer des Holocausts” – in dem Sinne, dass von da an die systematische Vernichtung von Menschen denkbar war. Dabei betont Zimmerer die große öffentliche Resonanz, die der Krieg bei den deutschen Zeitgenoss*innen hervorrief und die sich im Erfolg von Kolonialliteratur widerspiegelte. Dabei beschränkt Zimmerer die Entstehung des Nationalsozialismus selbstverständlich nicht alleinig auf die Kolonialzeit. Er sieht die koloniale Erfahrung vielmehr als wichtige Anregung und “Bindeglied” zwischen kolonialer Gewalt und nationalsozialistischer Vernichtung [18].

Ein ungleiches Verhältnis zwischen Medizin und Patient*innen

Ein weiteres Muster der Kolonialzeit und insbesondere kolonialer Medizin ist die patriarchale Beziehung zwischen Kolonisierenden und der einheimischen Bevölkerung. So war das Arzt-Patient:innen-Verhältnis weder patient:innen-orientiert noch fand es auf Augenhöhe statt. Da oft ökonomische und logistische Fragestellungen die Forschungsschwerpunkte der Tropenmedizin bestimmten, wurde die lokale Bevölkerung vorrangig als Ressource betrachtet. Neben der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen als Mittel gegen eine Dezimierung der Bevölkerung galt es auch, deren Reproduktionsrate zu steigern. So forschte beispielsweise der Augenarzt Alfred Leber 1914 an Frauen in Deutsch-Neuguinea, um die sogenannte “Geburtenfrage” zu klären. Frauen wurden dabei als Grundlage für die Beantwortung der „wichtigsten aller Fragen, die der Volksvermehrung“ genutzt [14]. Es wurden unter anderem gängige Verhütungsmittel verboten und Frauen teils von körperlicher Arbeit entlastet, damit sie mehr Zeit in ihre “reproduktive Aufgaben” investieren konnten [19]. Insbesondere bei Leber wird deutlich, mit welcher Sicht die einheimische Bevölkerung betrachtet wurde. Frauen in Ozeanien wurden beispielsweise als „sanfte Südseeschönheiten“ beschrieben und der meist männliche Blick europäischer Forscher verwandelte sie in sexuell aufgeladene Objekte. Oft wurden im Umgang mit Frauen unzählige persönliche Grenzen überschritten und körperliche sowie psychische Schäden im Dienste der Wissenschaft in Kauf genommen. Dies zeigt sich beispielsweise an Berichten Lebers zu seinen Befragungen:

„Meist waren die Bewohner bei unserem Kommen bereits versammelt. Zunächst wurden die verheirateten Frauen einzeln einem oft harte Geduldsproben stellenden Examen über ihre Geburten, Krankheiten und Todesfälle ihrer Kinder unterzogen.“ [20].

Vorurteile gegenüber indigener Medizin

Darüber hinaus war auch der Umgang europäischer Mediziner mit der indigenen Medizin äußerst vorurteilsbehaftet. So sahen sie die traditionelle Medizin der einheimischen Bevölkerung als primitiv an [21]. Traditionelle Heilerinnen und Heiler wurden verfolgt und verdrängt, indem die Kolonialherren beispielsweise versuchten, den Handel mit Heilpflanzen zu kontrollieren. 1929 verabschiedete die Kolonialverwaltung in Tansania die Witchcraft Ordinance, welche die Tätigkeit von Heilerinnen und Heilern untersagte und die erst 1968 aufgehoben wurde [22]. Stattdessen wurden im Zuge der Kolonisierung und christlichen Missionierung allgemeinmedizinische Krankenhäuser gebaut und obwohl die traditionelle Medizin einen großen Beitrag zur Erhaltung der grundlegenden gesundheitlichen Bedürfnisse geleistet hatte, wurde sie von europäischen Ärzt:innen und Gesundheitshelfer:innen nicht ernst genommen. Diese Annahme einer universellen Überlegenheit westlicher Medizin gegenüber der nicht-westlichen medizinischen Versorgung steht ganz in der Tradition kolonialer Herrschaftsvorstellungen – ein Muster, das sich bis heute hält.

Postkoloniale Muster in der heutigen “Entwicklungshilfe”

Im Sinne einer postkolonialen Betrachtung der Strukturen kolonialen Denkens erscheint es sinnvoll, sich hierbei mit dem Begriff der Entwicklungshilfe kritisch auseinanderzusetzen. So macht die medizinische Versorgung im Globalen Süden, also auch in den ehemaligen Kolonialstaaten, einen großen Anteil der Entwicklungshilfe aus. 

Bereits der Begriff der “Entwicklungshilfe” zeugt jedoch von postkolonialen Denkmustern. Während Hilfe auf einen Austausch auf Augenhöhe verweist, der nicht zum Hierarchiedenken des europäischen Imperialismus passt, war der Sachverhalt der Entwicklung und vor allem der Entwicklungsunterschiede bereits ein zentrales Thema kolonialer Vorstellungen. Der Historiker Daniel Chassé stellt daher beispielsweise in einem Text für die Bundeszentrale für politische Bildung die Frage, inwiefern Entwicklungshilfe als Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln betrachtet werden muss. Gedacht als Hilfe zur Emanzipation, ist die Entwicklungshilfe seit Jahrzehnten auch dem Vorwurf ausgesetzt, die wirtschaftliche und kulturelle Dominanz der sogenannten Industrieländer zu festigen [23]. Insbesondere in der Medizin offenbaren sich diese Ungleichheiten. So sah sich Mitte 2020 unter anderem die bekannte NGO Médecins Sans Frontières (MSF) starker interner Kritik ausgesetzt. Über 1.000 ehemalige und derzeitige Beschäftigte unterzeichneten ein internes Positionspapier, welches der Organisation einen grundlegenden institutionellen Rassismus vorwirft. Die Arbeit der MSF reproduziere koloniale Vorstellungen und white supremacy durch ihre Einsätze. Darüber hinaus vernachlässige MSF das Ausmaß des Rassismus, der durch die interne Politik, die Einstellungsprozesse, die Arbeitsplatzkultur, sowie “dehumanisierende” Programme aufrechterhalten werde. Ein zentraler Vorwurf ist dabei auf die Struktur der Leitungsebene bezogen, die sich aus einer privilegierten weißen Minderheit bilde und eine primär nicht-weiße Belegschaft in anderen Ländern beschäftige.  2019 stellte die Organisation über 65.000 Beschäftigte ein, 90% davon wurden lokal eingestellt. Ein Großteil der Programme werden jedoch durch europäische Senior Managers aus fünf Zentren in Westeuropa geleitet. Nur eines davon, das vor einem Jahr im Senegal eröffnet wurde, befindet sich im Globalen Süden. Der internationale President MSFs Christos Christou hieß die Kritik willkommen und sah sie als Katalysator für eine Reihe interner Veränderungen, die schon geplant seien [24]. Gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen #BlackLivesMatter-Bewegung bleibt es spannend zu beobachten, inwiefern internationale und organisierte Kritik zu einer systematischen Änderung der aktuellen Verhältnisse führen wird.


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Quellen:

1. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/077/1907735.pdf

2. Stefan Reis Schweize: Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia: Die Kolonialzeit holt Berlin ein In: Neue Zürcher Zeitung vom 18. Juli 2017

3. https://www.tagesspiegel.de/wissen/zum-110-todestag-des-beruehmten-mediziners-die-zwielichtige-karriere-des-dr-robert-koch/25858566.html, abgerufen am 29.12.2020

4. Interview mit Historiker Jürgen Zimmerer über Robert Koch. Deutschlandfunk  2020, abgerufen am 29.12.2020

5. Pearson, R: Afrikanische Trypanosomiasis. in: MSD-Manuals 2017.  

6. Sarah Ehlers, Europa und die Schlafkrankheit. Koloniale Seuchenbekämpfung, europäische Identitäten und moderne Medizin 1890 – 1950, Göttingen 2019, 163.

7. Eckart, Wolfgang U.: Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945. Paderborn, 1997.

8. Koch, Robert: „Schlussbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit“. In: Deutsche Medizinischen Wochenschrift 33 (46), 1889-95. 1907.

9. Eva Anne Jacobi: Das Schlafkrankheitsmedikament Germanin als Propagandainstrument: Rezeption in Literatur und Film zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 29, 2010, S. 43–72.

10. https://www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/disziplinen/medizin#_edn1 

11. Wolfgang U. Eckart: Die Kolonie als Laboratorium. In: Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert. Hg. Birgit Griesecke, Marcus Krause, Nicolas Pethes, Katja Sabisch. Suhrkamp, Frankfurt 2009.

12. Maglo KN, Mersha TB, Martin LJ. Population genomics and the statistical values of race: An interdisciplinary perspective on the biological classification of human populations and implications for clinical genetic epidemiological research. Front Genet. 2016;7(FEB):1-13. doi:10.3389/fgene.2016.00022

13. Plümecke T. Rasse: Die Ära Der Genetik. in: Die Ordnung Des Menschen in Den Lebenswissenschaften. 2013.

14. https://www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/lehre/personen/koloniale-forschung-an-frauen#_edn4

15. Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 

16. Ruth Stiasny: Vom Rassismus zur „Rasse“ – von der „Rasse“ zum Rassismus. In: AG gegen Rassenkunde, 2008.

17. Jürgen Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51. 2003. S. 1119.

18. Jürgen Zimmerer: Rassenkrieg und Völkermord. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika und die Globalgeschichte des Genozids, in: Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Henning Melber, Frankfurt, 2005.

19. Alfred Leber, Durchquerung der Insel Manus (Admiratlitätsinseln). (Medizinisch-Demographische Deutsch-Neuguinea-Expedition des Reichskolonialamts im Jahre 1914.), in: Paul Langhands (Hg.), Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt, 69. Jahrgang, Gotha 1923, 265.

20. Alfred Leber/Ludwig Külz, Bericht der medizinisch-demographischen Südsee-Expedition über die Gazellenhalbinsel, in: Deutsches Kolonialblatt 17, 1914, S. 782.

21. “Africa: Overview on Medicinal Plants and Traditional Medicine”. Conserve Africa. Pambazuka News. abgerufen am 24.09.2015. 

22. Helwig, David: Traditional African medicine. in: Gale Encyclopedia of Alternative Medicine. 2005.

23. Daniel Speich Chassé. Postkoloniale Entwicklungshilfe.  2016.

24. https://www.theguardian.com/global-development/2020/jul/10/medecins-sans-frontieres-institutionally-racist-medical-charity-colonialism-white-supremacy-msf

25. Abbildung 1: Maud Sulter, Hélas l’héroïne. Quelques instants plus tard, Monique cherchait sa brosse à cheveux, 1993, from the series Syrcas, photographic print, ©The Maud Sulter Estate, © ADAGP, Paris