Weibliche Genitalverstümmelung

Was steckt dahinter?

Triggerwarnung: Der folgende Artikel thematisiert explizit die Verstümmelung von Frauen und Mädchen sowie die Prävalenz und dessen Folgen. Es gibt u.a. Beschreibungen, in denen die unterschiedlichen Eingriffe geschildert werden, die belastend und retraumatisierend wirken können. Wenn euch diese Themen und Darstellungen belasten, überspringt vorsichtshalber den Artikel oder lest ihn nur in Anwesenheit einer vertrauten Person.

Wortwahl: In der deutschen Sprache sind die Begriffe „weibliche Beschneidung“ sowie „weibliche Genitalverstümmelung“ gebräuchlich. Das Wort „Beschneidung“ wird ist neutral gehalten und bei vielen Betroffenen bevorzugt, da „Verstümmelung“ häufig als abwertend und stigmatisierend angesehen wird. Gleichzeitig fordern AktivistInnen den Begriff „Verstümmelung“, da „Beschneidung“ verharmlosend wirken kann (7). Außerdem soll damit der Gleichstellung von weiblicher und männlicher Beschneidung entgegengewirkt werden (11). In diesem Artikel wird der Begriff „Verstümmelung“ verwendet, um die Brutalität dieses Vorgehens zu betonen und den Leser bezüglich der Notwendigkeit des Schutzes gefährdeter Frauen zu sensibilisieren.

Spätestens nach Waris Diries Buch „Wüstenblume“ und dessen Verfilmung ist das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung, in internationalen Fachkreisen FGM (Female Genitale Mutilation“), in den Fokus der Allgemeinbevölkerung gerückt. Laut UNICEF leben weltweit über 200 Millionen Frauen und Mädchen mit den schmerzhaften Folgen dieser menschenrechtsverletzenden Tradition (1). Man geht davon aus, dass zu dieser bereits erschreckend hohen Zahl jedes Jahr ungefähr 4 Millionen Fälle hinzukommen (2). Heute wird die weibliche Genitalverstümmelung noch in etwa 30 Ländern praktiziert (1), dabei beispielsweise in Ägypten, Somalia oder Sudan weit über 80% der Frauen und Mädchen betroffen (3). In Deutschland leben Hochrechnungen zufolge etwa 65.000 Betroffene. Diese Zahl berechnet sich dadurch, dass die Anzahl der in Deutschland lebenden nichtdeutschen weiblichen Personen mit der Prävalenz in entsprechendem Land verrechnet wird. Sobald nun aber eine Betroffene die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt, wird sie von diesen Statistiken nicht mehr erfasst. Außerdem ist fraglich, inwiefern die Prävalenz von FGM je nach Bevölkerungsgruppe im In- und Ausland vergleichbar ist (4). Doch es steht fest: Auch in Deutschland ist FGM für viele Frauen eine Lebensrealität.

Was genau beschreibt der Begriff der weiblichen Genitalverstümmelung?

Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt FGM „alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußerlichen Genitalien oder deren Verletzung zum Ziel haben, sei es aus kulturellen oder anderen nichttherapeutischen Gründen“ (5). Es werden dabei nach anatomischen Gegebenheiten vier Typen unterschieden: Bei Typ I wird die Klitoris und/oder Klitorisvorhaut entfernt, bei Typ II erfolgt zusätzlich noch eine Abtrennung der inneren und/oder äußeren Schamlippen. Typ III beschreibt eine komplette Entfernung des äußeren Genitals und das Verschließen der Wundränder bis auf ein kleines Loch zum Harn- und Menstrualabfluss, die sogenannte „Infibulation“. Zu Typ IV gehören alle übrigen verletzenden Prozeduren, welche den vorherigen Typen nicht zugeordnet werden können, wie beispielsweise Verbrennungen und Verätzungen, aber auch Intimpiercings (5). Typ I und II kommen mit etwa 80% am häufigsten vor, es gibt jedoch Länder, in denen der Großteil aller Mädchen der schwerwiegendsten Form der Beschneidung, Typ III, unterzogen werden, dazu gehören Somalia, Sudan, Eritrea und Äthiopien (6). In Abbildung 1 sind die verschiedenen Formen bildlich dargestellt.

Zu welchem Zeitpunkt die Prozedur stattfindet, ist je nach Land und Region sehr unterschiedlich. Dieser variiert von bereits wenigen Tagen nach der Geburt bis später in der Pubertät (5). Bei Zweiterem ist die Verstümmelung oft mit einer Zwangsverheiratung der Kinder verknüpft und gilt als Hochzeitsvorbereitung (7). Am häufigsten findet die Prozedur jedoch im Alter von vier bis acht Jahren statt (7). Als Schneidewerkzeug dienen unter anderem Küchenmesser, Glasscherben, oder Rasierklingen. Das Infektionsrisiko ist somit sehr hoch. Zum Vernähen werden neben Bindfäden und Bast auch Dornen und Eisenringe verwendet. Vor allem bei der Verstümmelung von Typ III werden die Beine der betroffenen für einige Wochen fest fixiert, um eine Heilung der Wunde zu erreichen (7).

Folgen und Risiken

Neben den akuten Komplikationen wie Blutungen und Wundinfektionen haben die Betroffenen mit zahlreichen Langzeitkomplikationen zu kämpfen, darunter Schmerzen beim Wasserlassen, Nierenbeckenentzündungen, Inkontinenz, Periodenschmerzen und Infertilität (5). Zusätzlich kann es zu schwerwiegenden psychologischen Problemen, wie Angststörungen, Depressionen, Panikattacken oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr kommen (5). Insbesondere bei Typ III besteht unter der Geburt die Gefahr geburtshilflicher Komplikationen mit einer hohen Mütter- und Kindersterblichkeit (7). Es kommt vor, dass Betroffene diese Komplikationen nicht in Zusammenhang mit der Verstümmelung bringen. Dabei kann ein niedriges Bildungsniveau eine Rolle spielen, aber auch Unwissenheit darüber, dass die Prozedur überhaupt durchgeführt wurde, z.B. bei einer Verstümmelung in den ersten Lebenstagen (7). Die Tabuisierung von Sexualität im öffentlichen Diskurs erschwert die Situation zusätzlich. So äußerte sich auch Waris Dirie wie folgt: “Das vielleicht Allerschlimmste ist für uns Frauen … dieses furchtbare, ungeschriebene Gesetz: Du musst schweigen. Du darfst mit niemandem über die Schmerzen sprechen” (8). Jedoch zeigt sich hier ein Wandel in den letzten Jahren. In vielen Prävalenzländern spricht sich eine Mehrheit der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren für eine Beendigung der Praxis aus (3).

Gründe

FGM wird aus unterschiedlichsten Gründen – je nach Bevölkerungsgruppe – praktiziert. Die religiöse Zugehörigkeit ist dabei nicht ausschlaggebend, denn Genitalverstümmelung kommt sowohl bei Muslimen, Christen als auch Juden vor. Entgegen manchen Behauptungen wird die Praxis weder im Koran noch in der Bibel erwähnt. Neben der Tradition und dem Bekenntnis zu den Werten des Stammes (“Wir haben es schon immer so gemacht“) zählen zudem noch ästhetische/hygienische Gründe (eine unbeschnittene Frau gilt mancherorts als unrein). FGM gilt des Weiteren als Initiationsritus, in dem das Mädchen zur Frau wird und Anerkennung innerhalb des Stammes erlangt. Außerdem dient die Verstümmelung der Kontrolle weiblicher Sexualität (12).

Was kann präventiv getan werden?

Seit 2013 wird die genitale Verstümmelung in Deutschland als eigener Straftatbestand aufgeführt (9). Doch, um es mit den Worten von Fadumo Korn, Gründerin von Nala e.V. (Verein gegen weibliche Genitalverstümmelung), zu sagen: „Ein Verbot bringt nichts, solange nicht die Köpfe geknackt sind“ (13). Statistische Daten zeigen, dass Länder mit geringem Bildungsniveau gleichzeitig auch die höchsten FGM-Prävalenzraten aufweisen (7). Um langfristig Erfolge zu erzielen und den Teufelskreis zu durchbrechen, muss ein fundiertes Wissen vermittelt und den Mädchen Perspektiven aufgezeigt werden. Dafür sind Bildung und soziale Unterstützung zur Erlangung von Unabhängigkeit ein fundamentale Bausteine (7).

FGM im medizinischen Arbeitsalltag

Aufgrund eines Mangels an Erfahrung und fundierten Wissens seitens des medizinischen Personals über FGM erfolgt die Behandlung der betroffenen Frauen in Deutschland nicht immer angemessen. Doktor Zerm, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und Mitglied der AG Frauengesundheit in der Entwicklungshilfe, entwickelte daher einen Leitfaden zum Umgang mit Betroffenen und der Prävention. Anlaufstellen zu bieten, in den eine angemessene psychologisch-psychotherapeutische Behandlung angenommen werden kann (7). Auch die Bundesärztekammer hat 2016 Empfehlungen für den Umgang mit betroffenen Patientinnen sowie Internetseiten zur eigenen Weiterbildung veröffentlicht (10).

Ferner erscheint es sinnvoll, das Thema FGM in das medizinische Curriculum zu integrieren, um die psychischen und physischen Besonderheiten nach einer Genitalverstümmelung, beispielsweise im Rahmen einer Geburt oder Operation, berücksichtigen zu können.

Positive Entwicklung

Erfreulicherweise konnte in den letzten Jahrzehnten ein Rückgang der weiblichen Genitalverstümmelung beobachtet werden. Während vor 30 Jahren noch eins von zwei Mädchen im Alter von 15-19 Jahren in den Prävalenzländern betroffen war, reduzierte sich die Zahl 2021 auf eins von drei Mädchen (3).


Quellen:

1.    https://www.unicef.org/protection/female-genital-mutilation

2.    https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/weibliche-genitalverstuemmelung-11-000-opfer-jeden-tag-17779243.h3tml

3. https://data.unicef.org/topic/child-protection/female-genital-mutilation/

4. https://www.spiegel.de/panorama/justiz/genitalverstuemmelungen-ueber-verstuemmelungen-von-koerpern-und-wahrheiten-a-1225357.html

5.    https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/female-genital-mutilation

6.    https://www.who.int/teams/sexual-and-reproductive-health-and-research-(srh)/areas-of-work/female-genital-mutilation/prevalence-of-female-genital-mutilation

7.    http://www.dr-zerm.de/EmpfehlgenFGM2007.pdf

8.    Dirie, Waris: Schmerzenskinder. Berlin 2005, Ullstein

9.    https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/g/genitalverstuemmelung.html

10. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Empfehlungen/2016-04_Empfehlungen-zum-Umgang-mit-Patientinnen-nach-weiblicher-Genitalverstuemmelung.pdf

11. https://www.nala-fgm.de/fgm/fakten.html

12. https://www.nala-fgm.de/fgm/gruende.html

13. https://www.nala-fgm.de/images/projekte/deutschland/2021/2021-12-cuxhaven/2021-11-cuxhavener-anzeiger.jpg

Abbildung 1: Russia′s first trial on female genital mutilation restarts after coronavirus lockdown | Europe | News and current affairs from around the continent | DW | 23.07.2020

Abbildung 2: UNICEF global databases, 2021, based on Multiple Indicator Cluster Surveys (MICS), Demographic and Health Surveys (DHS) and other national surveys, 2004-2020