Gendermedizin – Zeit für gute Neuigkeiten

Cis-Frauen, trans- und nicht-binäre Personen sind meist in der medizinischen Forschung unterrepräsentiert. Viele Beispiele zeigen: hier liegt ein systematisches Problem der Datenerhebung vor. Mit weitreichenden Folgen. – Ein Kommentar von Serin Gatzweiler (Heile Welt Podcast).

Schwindel, Schüttelfrost, Schmerzen im Arm. Dann Fieber, Kopfschmerzen oder Übelkeit. Müdigkeit. Das sind Reaktionen des Körpers, die wohl viele gerade nach einer Impfung gegen SARS-CoV-2 erwartet haben. Aber Zyklusveränderungen und verstärkte Menstruationsbeschwerden? Das haben Forscher*innen nicht kommen sehen. Und auch nicht danach gefragt. Einige Menstruierende verunsicherte das, vor allem am Beginn der Pandemie. Die Vorfälle über Regelbeschwerden nach Impfungen häuften sich weltweit. Das ist nicht nur für cis-Frauen wichtig zu wissen. Vor allem auch für trans und nicht-binäre Personen kann das schwerwiegende Auswirkungen haben, gerade wenn sie nicht über Veränderungen ihres Hormonhaushaltes aufgeklärt wurden. 

Eine US-Studie zeigt jetzt, dass die Coronaimpfung die Periode menstruierender Personen nur leicht verzögert (1). Sicher konnte man sich dessen jedoch im Vorfeld nicht sein. Denn: Forschungen und Studien über den Einfluss der Impfung auf den Zyklus wurden erst durchgeführt, nachdem immer mehr Zyklusveränderungen nach der Impfung bekannt geworden sind. Ein anderes Beispiel für die fehlende Beachtung des Geschlechts in der Medizin: Laut einer Studie von Forschende der Stanford University School of Medicine in Kalifornien fanden heraus, dass Mädchen mit Autismus weniger stereotypes, repetitives Verhalten als Jungen zeigen (2). Dieses Verhalten gehört aktuell laut DSM-5 allerdings zu den Diagnosekriterien einer Autismus-Spektrum-Störung. Bisher werde Autismus aber vor allem aus der Sicht von Jungen untersucht, sagt Vinod Menon, Professor für Psychiatrie, Verhaltenswissenschaften sowie Neurologie und Autor der Studie (3). Die klassische Autismus-Diagnose hat sich also als männliches Modell herausgestellt. Das führt zum Nachteil von Mädchen und Frauen, bei denen die Diagnose später und seltener gestellt wird.

Damit noch nicht genug: Frauen leiden 1,5-mal häufiger an unerwünschten Wirkungen nach der Einnahme von Medikamenten (4). Ein bekanntes Beispiel ist das Herzmedikament Digoxin. Bei einer Studie von 2002 stellte sich heraus, dass das Medikament das Leben von Frauen im Vergleich zur Einnahme von Placebo deutlich verkürzte. Das der Männer nicht (5). Das ist eine logische Folge davon, dass immer noch weniger weibliche als männliche Proband*innen – nicht nur in klinischen Studien, sondern auch in Tierversuchen – inkludiert werden.

Die Auswirkungen zeigen sich auch aktuell in der Corona-Forschung, die in einigen Bereichen auf die Untersuchung der chinesischen SARS-Pandemie 2002-2004 zurückgreift. Hinsichtlich Menschen mit Uterus gibt es aber deutlich weniger oder keine Datenerhebungen. Problematisch ist das vor allem für schwangere Personen mit Vorerkrankungen. Sie haben ein deutlich erhöhtes Risiko an einer SARS-CoV-2 Infektion zu versterben, wie sich inzwischen zeigt (6). Auf der anderen Seite wissen wir, dass cis-Frauen eine aktivere T-Zell- und B-Zell-Antwort aufweisen, die dazu führt, dass mehr spezifische Antikörper produziert werden. Das wiederum ist der Grund, warum Frauen stärker auf einige Impfstoffe ansprechen (7). Wäre es daher sinnvoll, verschiedene Versionen von Impfstoffen zu entwickeln? Professor*innen der Mikrobiologie und Immunologie der John Hopkins Universität schlugen dies bereits 2014 vor (8).

Das sind nur einige Beispiele, die deutlich machen, dass hier ein systematisches Problem besteht: Die Gender-Data-Gap! Das bedeutet, dass eine Datenlücke vorliegt, die sich in vielen Bereichen zum Nachteil von cis-Frauen und trans oder nicht-binären Personen auswirkt, da der cis-männliche Körper in der Medizin noch immer als Norm betrachtet wird. Die geschlechtssensible Medizin bzw. Gendermedizin hat sich zum Ziel gesetzt, das zu ändern. Eine große Aufgabe, denn die Wurzeln dieser Unterrepräsentierung reichen weit zurück.

Im 17. und 18. Jahrhundert hatte man Frauen und Männer als körperlich gleich angesehen. Auch die Geschlechtsteile wurden als gleich erachtet, nur verschieden geformt, wobei immer vom Männlichen ausgegangen wurde. Erst nach der Zeit der Aufklärung, Ende des 18. Jahrhunderts, waren Mediziner (hier wird nicht gegendert, da es in dieser Zeit immer Männer waren) auf der Suche nach Unterschieden in der Biologie zwischen Mann und Frau, um Frauen von Männern abzugrenzen (9). Ein eindrückliches Beispiel: Das „Dictionaire des Sciences Médicales“ (Lexikon der Medizinwissenschaft) von 1812 bis 1822 widmete sich in 67 Bänden auf 250 Seiten der Frau und zeigte, wie Frauen den Männern angeblich physisch, seelisch-geistig, psychologisch und politisch unterlegen seien (10).

Ab diesem Punkt, an dem Forscher, Autoren und Ärzte sich einig waren, dass es keine Gleichheit der Geschlechter mehr gebe, wird auch klar, dass unsere Gesellschaft davon geprägt ist, dass es nur zwei Geschlechter geben kann: die Geburtsstunde der Binarität.

Doch in der Medizin ist noch nicht einmal das angekommen. Dr. Amma Yeboah ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und forscht unter anderem über Gendermedizin. Im Podcast “Heile Welt” sagt sie, dass Forschung noch nicht einmal dichotom sei. Mit dem Wissen, dass es unglaublich viele Geschlechter gibt, sollte es doch eigentlich so sein, dass in der Forschung alle Geschlechter einbezogen werden. So sei es aber nicht (11).

Dazu kommt: Wissenschaft und Forschung hängen oft auch mit subjektiven Entscheidungen zusammen, die geprägt sind von Kultur und Gesellschaft. Es ist weniger komplex, neue Studienergebnisse mit alten zu vergleichen, wenn die Teilnehmenden immer das gleiche Geschlecht haben. Wenn früher nur an Männern geforscht wurde, ist es am einfachsten, auch heute nur am männlichen Geschlecht zu forschen.

Dennoch lassen die Entwicklungen der letzten Monate vorsichtig hoffen. Die Covid-19 Erkrankung zeigt deutliche Geschlechtsunterschiede im Verlauf (7), sodass klar wird: die neu entstehende Datenmenge muss in Zukunft geschlechtssensibel ausgewertet werden. Das könnte ein Antriebsmotor für die Gendermedizin werden.

Und auch in der Lehre bewegt sich langsam etwas zum Positiven. An der Uni Bielefeld ist eine neue Professur für geschlechtssensible Medizin entstanden. Geschlechterunterschiede und -gemeinsamkeiten werden in Bielefeld nun also auch systematisch und verpflichtend in die Lehre von Medizinstudierenden eingebunden. Nur mit diesem Wissen können Androzentrismus und binäre Strukturen durch die neue Generation aufgelöst werden. Dieses Wissen kann damit schlussendlich auch in der Forschung Einzug halten.

Auch wenn klar ist, dass Wissenschaften – wie die Medizin – in einem bestimmten Kontext entstanden sind, sollten sie sich immer wieder neu an zeitliche Kontexte und Erkenntnisse anpassen. Dadurch kann die Gesundheit aller Menschen in Zukunft verbessert werden.


Der Heile Welt Podcast

2019 wurde der Podcast von Madeleine Sittner und Pia Schüler – zwei Medizinstudentinnen aus Leipzig und Köln – ins Leben gerufen. Mittlerweile hat sich das Team vergrößert und gemeinsam recherchieren sie Themen, die in den Bereich der Medizin, mit Schnittstellen zu Politik und Ethik, einzuordnen sind und in den Kolloquien der Universitäten wenig oder selten Platz finden. Neben der eigenen Recherche und Aufbereitung der Fakten werden im Podcast jeweilige Expert*innen interviewt. Ziel dabei ist es, über die Grenzen der manchmal heil erscheinenden Welt der Medizin in Deutschland aus Leitlinien und Behandlungskonzepten, die im Studium vermittelt werden, hinauszuschauen und Informationen über genau diese Themen leichter zugänglich zu machen – auch für Menschen außerhalb des Medizinstudiums! So reichen die Podcastfolgen von “Weiblicher Genitalverstümmelung” über “Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen” bis zu “Seenotrettung auf dem Mittelmeer”.

Mehr über den Podcast und die Folgen erfahrt ihr auf: www.heileweltpodcast.com oder auf Instagram.

Reinhören könnt ihr auf Spotify, Audio Now, Deezer oder Apple Podcasts! Dort findet ihr auch eine Podcastfolge zur geschlechtssensiblen Medizin, in der sie mit Dr. Amma Yeboah – Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und aktuell Gastdozentin an der Universität zu Köln für die Bereiche Gender Studies in Köln – sprechen.

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Quellen:

1. Edelman, A., Boniface, E. R., Benhar, E., Han, L., Matteson, K. A., Favaro, C., … & Darney, B. G. (2022). Association between menstrual cycle length and coronavirus disease 2019 (covid-19) vaccination: a US cohort. Obstetrics & Gynecology, 10-1097. doi: 10.1097/AOG.0000000000004695 

2. Supekar, K., & Menon, V. (2015). Sex differences in structural organization of motor systems and their dissociable links with repetitive/restricted behaviors in children with autism. Molecular Autism, 6(1), 1-13.https://doi.org/10.1186/s13229-015-0042-z 

3. Digitale, E. (2015). Girls and boys with autism differ in behavior, brain structure. A study of about 800 children with autism found gender differences in a core feature of the disorder, as well as in the youngsters’ brain structures. Stanford medicine news center. Zugriff am 24.02.2022 unter https://med.stanford.edu/news/all-news/2015/09/girls-and-boys-with-autism-differ-in-behavior-brain-structure.html. 

4. Martin, R. M., Biswas, P. N., Freemantle, S. N., Pearce, G. L., & Mann, R. D. (1998). Age and sex distribution of suspected adverse drug reactions to newly marketed drugs in general practice in England: analysis of 48 cohort studies. British journal of clinical pharmacology, 46(5), 505-511. https://doi.org/10.1046/j.1365-2125.1998.00817.x 

5. Rathore, S. S., Wang, Y., & Krumholz, H. M. (2002). Sex-based differences in the effect of digoxin for the treatment of heart failure. New England Journal of Medicine, 347(18), 1403-1411. doi: 10.1056/NEJMoa021266 

6. Villar, J., Ariff, S., Gunier, R. B., Thiruvengadam, R., Rauch, S., Kholin, A., … & Papageorghiou, A. T. (2021). Maternal and neonatal morbidity and mortality among pregnant women with and without COVID-19 infection: the INTERCOVID multinational cohort study. JAMA pediatrics, 175(8), 817-826.. doi:10.1001/jamapediatrics.2021.1050 

7. Österreichische Akademie der Wissenschaften (2021, 25. Mai). Ist Covid-19 ein Motor für Gendermedizin? https://www.oeaw.ac.at/detail/news/ist-covid-19-ein-motor-fuer-gendermedizin 

8. Klein, S. L., & Pekosz, A. (2014). Sex-based biology and the rational design of influenza vaccination strategies. The Journal of infectious diseases, 209 Suppl 3(Suppl 3), S114–S119. https://doi.org/10.1093/infdis/jiu066 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24966191/ 

9. Strömquist, L. (2017). Der Ursprung der Welt. Berlin: Avant-Verlag. 

10. Knibiehler, Y. (2015). Die Ärzteschaft und die» weibliche Natur «in den Zeiten des Code civil. Trivium. Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales-Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes-und Sozialwissenschaften, (19). 

11. Yeboah, A. Schüler, P. (2019 Dez 11) Geschlechtssensible Medizin. Heile Welt Podcast. https://heileweltpodcast.com/2019/12/11/interview-mit-dr-amma-yeboah/