Globale Chirurgie – Das vernachlässigte Kind wird laut

Dr. Paul Farmer und Dr. Jim Kim bezeichneten Global Surgery 2008 als „neglected stepchild of global public health” [1]. Während Global Health inzwischen weltweit ein viel diskutiertes Thema ist und gerade im Hinblick auf die Covid-Pandemie noch an Bekanntheit gewonnen hat, ist die Thematik der Globalen Chirurgie vielen noch nicht geläufig. InciSioN, das International Student Surgical Network, möchte dies ändern. Seit der Gründung 2014 ist InciSioN stetig gewachsen und repräsentiert heute weltweit über 5000 Studierende und junge Berufstätige aus den Bereichen Medizin und Public Health in über 80 Ländern. Das Netzwerk hat zum Ziel, die Ausbildung zukünftiger globaler Chirurg:innen, Anästhesist:innen und Gynäkolog:innen zu fördern. Wir von InciSioN Germany – Junge DTC, als nationale Arbeitsgruppe von InciSioN und Studierendengruppe der Deutschen Gesellschaft für Tropenchirurgie, möchten erreichen, dass Global Surgery auch in Deutschland an Anerkennung und Bekanntheit gewinnt.  

Aber, wenn es doch schon Global Health gibt, braucht es dann noch Global Surgery? 
Abbildung 1: Anteil der Population ohne Zugang zu chirurgischer Versorgung [2]  

Chirurgische Versorgung kann in jeder Phase des Lebens bedeutend sein – von der Geburt, über unfallbedingte Verletzungen zu onkologischen Therapien. Schätzungsweise 28-32% der globalen Krankheitslast sind assoziiert mit chirurgischen Krankheitsbildern [2]. Doch diese fundamentale Rolle der Chirurgie wird in der epidemiologischen Forschung häufig nicht berücksichtigt [3]. Das globale Prioritätslevel chirurgisch behandelbarer Krankheitsbilder wird als schwach, aber wachsend eingeschätzt [4, 5]. 

Die Lancet Comission of Global Surgery veröffentlichte 2015 den Bericht “Global Surgery 2030: evidence and solutions for achieving health, welfare, and economic development”, der einen Meilenstein auf dem Gebiet der Globalen Chirurgie darstellte [2]. 

Die erste der fünf Kernaussagen des Berichts enthält eine Zahl, die weltweit Aufmerksamkeit erregte: 5 Milliarden. So vielen Menschen, also ca. zwei Dritteln der Weltbevölkerung, fehlt der Zugang zu sicherer, bezahlbarer chirurgischer und anästhesiologischer Versorgung, wenn diese benötigt wird. Das macht Konditionen, die in Ländern mit flächendeckender Gesundheitsversorgung Routine-OPs bedeuten, zu potenziell lebensbedrohlichen Krankheitsbildern. Im Bericht werden vier Dimensionen des Zugangs definiert: Rechtzeitigkeit, chirurgische Kapazität, Sicherheit und Finanzierbarkeit. Das chirurgische Zentrum muss erreichbar, sprich der Transport dorthin gegeben sein, und dies in einem akzeptablen Zeitraum. Die dann zur Verfügung stehende Versorgung muss sicher sein und schließlich darf die Finanzierung keine Barriere darstellen. Doch dies ist für die Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten nicht gegeben. Das definierte Ziel des Berichts lautet, bis 2030 80% Deckung der essenziellen chirurgischen und anästhesiologischen Versorgung pro Land zu erreichen. [2] 

Die zweite Kernaussage besagt, dass global mindestens 143 Millionen zusätzliche chirurgische Eingriffe pro Jahr benötigt werden. Als Ziel für 2030 setzt die Kommission 5000 Eingriffe pro 100.000 Einwohner. [2] 

Kernaussage Nummer drei lautet, dass sich jährlich 33 Millionen Menschen mit katastrophalen Ausgaben für chirurgische Versorgung und Anästhesie konfrontiert sehen. Dies bedeutet, dass die Kosten 10% des gesamten Einkommens oder 40% des Einkommens nach Abzug der Basisausgaben für Lebensmittel und Behausung übersteigen. Ein Viertel der Menschen, die sich einer chirurgischen Behandlung unterziehen, hat mit solchen finanziellen Rückschlägen zu kämpfen. Am meisten Menschen sind in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen betroffen sowie in jedem Land eher die ärmere Bevölkerung. Bis 2030 sollen solch existenzbedrohende Gesundheitsausgaben nach chirurgischen Eingriffen zu 100% vermieden werden. [2] 

Abbildung 2: Risiko finanzieller Katastrophen aufgrund von Kosten nach chirurgischer Behandlung nach Vermögen und Einkommen des Landes [2, 6]   

In der vierten key message geht es um die wirtschaftlichen Auswirkungen chirurgisch behandelbarer Krankheitsbilder. Investitionen in chirurgische Gesundheitsversorgung sind demnach bezahlbar, retten Leben und sie fördern das Wirtschaftswachstum. Die Kosten, die durch ein Bestehen des aktuellen Mangels an chirurgischer Versorgung entstehen würden, übersteigen die der notwendigen Investitionen. [2] 

Die letzte Kernaussage ist ein Zitat vom ehemaligen Präsidenten der Weltbank Dr. Jim Kim: „Surgery is an indivisible, indispensable part of health care”. [2] 

Chirurgie ist Teil der Gesundheitsversorgung – untrennbar und unverzichtbar. Dass sich diese fundamentale Rolle in der Thematisierung von Gesundheitsfragen auf globaler Ebene noch nicht widerspiegelt, beantwortet die eingangs gestellte Frage:  

Ja, wir brauchen Global Surgery!  

Global Surgery ist Teil der Sustainable Development Goals 

Die Unverzichtbarkeit der Globalen Chirurgie wird auch deutlich mit Blick auf die 2015 verabschiedeten Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die 17 Ziele für mehr globale Gerechtigkeit und eine nachhaltige Entwicklung bis 2030 festlegen [7]. Am offensichtlichsten ist wohl die Verknüpfung mit SDG 3: „Gesundheit und Wohlergehen“. Aber wie im Bericht „Global Surgery 2030“ erläutert, spielt die globale chirurgische Versorgung auch für die Wirtschaft eine wichtige Rolle. Somit hat Global Surgery auch direkten Einfluss auf SDG 1: „Keine Armut“ sowie SDG 8: „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“. Aber auch SDG 9: „Industrie, Innovation und Infrastruktur“, wird durch den Ausbau der chirurgischen Versorgung beeinflusst. Für die Nutzung eines OP-Saals wird Infrastruktur benötigt, z.B. für Sterilgutversorgung, Elektrizität und fließendes Wasser. Um Zugang zur Versorgung zu gewährleisten, bedarf es eines ausgebauten Straßen- und Transportnetzes. Damit trägt die Verbesserung der chirurgischen Versorgung zum Ausbau der Industrie und Infrastruktur bei. [8] 

Es bestehen massive Disparitäten in der chirurgischen Versorgung, global sowie auf nationaler Ebene zwischen sozialen Schichten. Deren Ausgleich betrifft sowohl SDG 10: „Weniger Ungleichheiten“ als auch SDG 16: „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“. Aber auch SDG5: „Geschlechtergleichheit“ wird durch den universalen Zugang zu chirurgischer Gesundheitsversorgung beeinflusst. Hier spielen die vermeidbare Mortalität und Morbidität unter Schwangerschaft und Geburt eine große Rolle. Zugang zu gynäkologischer Versorgung ist von größter Bedeutung, auch im Hinblick auf Gewalttaten, die an Frauen verübt werden. Mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen mussten eine weibliche Genitalverstümmelung erleiden [9]. Zugang zu adäquater chirurgischer Versorgung ist für diese Frauen essenziell, um das Risiko für Blutungen, Infektionen sowie urologische und gynäkologische Komplikationen zu senken. Ein weiterer bedeutungsvoller Aspekt in der Bestärkung und Selbstbestimmung von Frauen ist die Möglichkeit der sicheren Abtreibung. [8] 

Und schließlich bringt Global Surgery Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen und schafft globale Netzwerke. Der Global Surgery Community fehlt es noch an Diversität, da der Diskurs hauptsächlich in Fachkreisen stattfindet und sonstige gesellschaftliche Foren noch nicht ausreichend eingebunden sind [4, 5]. Doch das globale Netzwerk wächst. Internationale gegenseitige Unterstützung und Erfahrungsaustausch sind sichtbar bei der Stärkung der chirurgischen Versorgungssysteme in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen, was Global Surgery verknüpft mit SDG 17: „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ [8]. Der Wille zur internationalen Zusammenarbeit wird auch deutlich in der 2015 von allen WHO-Mitgliedsstaaten anerkannten World Health Assembly Resolution WHA68.15: „Strengthening emergency and essential surgical care and anaesthesia as a component of universal health coverage” [10].  

Abbildung 3: Sustainable Development Goals im Kontext der Globalen Chirurgie [7] 
Das vernachlässigte Kind ist erwachsen.  

Gesundheit ist ein Menschenrecht und Chirurgie essenzieller Bestandteil der Gesundheitsförderung und -erhaltung. Das Ausmaß der bestehenden globalen Disparitäten in der chirurgischen Versorgung muss sich in der Priorisierung von Chirurgie im Kontext globaler Gesundheit widerspiegeln. Das wachsende Netzwerk der globalen Chirurgie wird eine weitere Vernachlässigung der Thematik nicht zulassen. Ein Kind ist Global Surgery somit nicht mehr, sondern erwachsen zu einer selbstbewussten Akteurin im Streben nach Gerechtigkeit, nachhaltiger Entwicklung und Zugang zu sicherer medizinischer Versorgung für alle Menschen weltweit.

Du könntest Dir vorstellen, InciSioN Germany – junge DTC aktiv zu unterstützen oder hast Fragen zu unserer Arbeit? Melde Dich gerne bei uns! 

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Für weitere Informationen zur Globalen Chirurgie:  

https://incisionetwork.org/about/

https://issuu.com/incision

https://www.youtube.com/channel/UCHhlMyH_In1NLc8rbKi-1vg?view_as=subscriber

https://www.lancetglobalsurgery.org

https://issuu.com/dominiquevervoort/docs/global_surgery-_an_introduction

https://www.globalsurgerystudents.org/articles-papers

https://www.theg4alliance.org

Podcast: Global Scalpels 


Quellen

1. Farmer, P.E. and J.Y. Kim, Surgery and global health: a view from beyond the OR. World J Surg, 2008. 32(4): p. 533-6. 

2. Meara, J.G., et al., Global Surgery 2030: evidence and solutions for achieving health, welfare, and economic development. Lancet, 2015. 386(9993): p. 569-624. 

3. Rose, J., et al., The role of surgery in global health: analysis of United States inpatient procedure frequency by condition using the Global Burden of Disease 2010 framework. PLoS One, 2014. 9(2): p. e89693. 

4. Shiffman, J., Four Challenges That Global Health Networks Face. Int J Health Policy Manag, 2017. 6(4): p. 183-189. 

5. Shawar, Y.R., J. Shiffman, and D.A. Spiegel, Generation of political priority for global surgery: a qualitative policy analysis. Lancet Glob Health, 2015. 3(8): p. e487-e495. 

6. Shrime, M.G., et al., Catastrophic expenditure to pay for surgery worldwide: a modelling study. Lancet Glob Health, 2015. 3 Suppl 2(0 2): p. S38-44. 

7. United Nations. Sustainable Development Goals. 2015  [cited 2022 January 23]; Available from: https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/

8. Roa, L., et al., Global surgery and the sustainable development goals. Br J Surg, 2019. 106(2): p. e44-e52. 

9. Unicef. Female genital mutilation (FGM). 2021  [cited 2022 January 23]; Available from: https://data.unicef.org/topic/child-protection/female-genital-mutilation/

10. World Health Organization. World Health Assembly Resolution 68.15. 2015  [cited 2022 January 23]; Available from: https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA68/A68_R15-en.pdf