Mentale Gesundheit von Geflüchteten

Die Lage heute

Das Thema „Mentale Gesundheit“ gewinnt weltweit stetig an Relevanz. In diesem Topic of the Month wollen wir einen Blick auf die mentale Gesundheit von Geflüchteten werfen und verschiedene Methoden betrachten, wie die momentane Situation nachhaltig verbessert werden könnte.

Die WHO schätzte am Ende des Jahres 2019 die Zahl der gewaltsam Vertriebenen weltweit auf fast 80 Millionen Menschen. Darunter sind 46 Millionen Internally Displaced People (geflüchtet innerhalb der Landesgrenzen) und circa 26 Millionen nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannte Flüchtlinge. Die meisten von ihnen leben in Entwicklungsländern und Gebieten, die von akuter Ernährungsunsicherheit oder Mangelernährung betroffen sind oder selbst politische Unruhen erleben, wie zum Beispiel Türkei,Uganda oder Pakistan. Nur ein kleiner Teil lebt tatsächlich in Europa, entgegen der öffentlichen Meinung. 

Diese Menschen sind vielen psychischen Belastungen ausgesetzt. Verfolgung im Heimatland, Gewalterfahrungen im Rahmen bewaffneter Konflikte und die Strapazen der Flucht führen dazu, dass die Prävalenz von psychischen Erkrankungen in diesen Bevölkerungsgruppen weit über dem Durchschnitt liegt. Nach aktueller Studienlage wird von einer doppelt bis dreifach höheren Prävalenz für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Angststörungen, bipolare Störungen, Depression und Schizophrenie ausgegangen. In der Folge ist auch das Risiko für Selbstverletzung und Suizid erhöht. So wurden zum Beispiel 2019 und 2020 in den Kliniken von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos, Samos und Chios 180 Menschen wegen Selbstverletzung und Suizidgedanken behandelt. Zwei Drittel davon waren Kinder.

Trotz dieser alarmierenden Umstände ist es wichtig, von einer Verallgemeinerung Abstand zu nehmen. Geflüchtete sollten nicht pauschal als traumatisiert betrachtet werden!

Herausforderungen bei der Versorgung von Geflüchteten

Auf dem Weg zu einer erfolgreichen psychosozialen Versorgung von Geflüchteten gibt es zahlreiche Hürden. Zum einen ist das Gesundheitssystem in vielen Gastgeberländern durch jahrelange Konflikte sehr schwach. Besonders im Bereich mentale und psychische Gesundheit ist die Versorgung oft schon für die eigene Bevölkerung unzureichend, geschweige denn für eine große Population Geflüchteter. Dies führt dazu, dass die Behandlung oder schon bloße Diagnostik von psychischen Erkrankungen als fremd und stigmatisierend empfunden werden kann und daher gemieden wird. Wo nicht genügend Arbeitskräfte mit lokalen Kultur- und Sprachkenntnissen zur Verfügung stehen, kommen im Rahmen von Hilfsprojekten ausländische Fachkräfte zum Einsatz. Sie haben jedoch mit Kultur- und Sprachbarrieren zu kämpfen, die eine erfolgreiche Behandlung erschweren. Viele Herausforderungen sind also durch eine Ressourcenknappheit im Bereich mentale Gesundheit bedingt.

Mit Blick auf die Situation an den europäischen Außengrenzen ist es jedoch wichtig zu betonen, dass auch fehlender politischer Wille ein zentrales Hindernis darstellen kann. Wenn menschliches Leid toleriert oder gar instrumentalisiert wird um ein Exempel zu statuieren und weitere verfolgte Menschen von der Flucht abzuhalten, dann ist das zentrale Problem eher die angewandte Einwanderungspolitik und nicht etwa fehlende Strukturen im Gesundheitssystem.

Neue Ansätze zur Problemlösung

Was muss geschehen, um die Situation zu verbessern?

Es gibt zahlreiche Lösungsansätze, die trotz des eklatanten Mangels an Arbeitskräften eine gute und strukturierte Grundversorgung von Geflüchteten im Mental-Health-Bereich ermöglichen. Es benötigen aber nicht alle Geflüchteten mit psychischen Beschwerden eine Psychotherapie oder gar eine medikamentöse Intervention. Oft kann schon die nachhaltige Implementation von Mental Health Awareness-Kampagnen oder das Erlernen von Coping-Mechanismen durch eine fortschreitende Entstigmatisierung schrittweise zu einer Besserung des Leids beitragen.

Das multimedia-gestützte Selbsthilfepaket „SelfHelp+“, das von der WHO entwickelt wurde, bietet eine innovative Möglichkeit auch mit wenigen Ressourcen viele Menschen zu erreichen und ihr psychosoziales Wohlbefinden zu verbessern. Im Rahmen von SelfHelp+ werden Gruppen von 20-30 Geflüchteten über Audioaufnahmen in ihrer Muttersprache über Stressmanagementmethoden informiert und zu kleinen Diskussionen angeleitet. Dazu erhalten sie ein illustriertes Handbuch mit weiteren Informationen zu verschiedenen Mental Health Themen. Studien zeigen, dass sich mit dieser Methode die psychologische Belastung der Teilnehmer signifikant reduzieren lässt.

Trotzdem besteht weiterhin eine Diskrepanz zwischen Geflüchteten mit Bedarf an professioneller Hilfe und der Ressourcen, die in den Gastländern zur Verfügung stehen. Eine vielfach bewährte Methode zur Überbrückung diese Kluft ist die Ausbildung von anderen Geflüchteten zu Peer-Beratern. Nach einem mehrtägigen bis mehrwöchigen Lehrgang können einfache Aufgaben von Therapeuten an die Peer-Berater delegiert werden. Dazu gehören unter anderem die Aufklärung über das Krankheitsbild aber auch Kurzzeit Interventionen unter Supervision eines Psychotherapeuten. Peer-Berater können so als Brücke zwischen den Geflüchteten und den Strukturen des Gastlandes fungieren.

Gefangen im Teufelskreis

Obwohl eine zunehmende Einigkeit über die Relevanz von psychischen Erkrankungen in der Versorgung von Geflüchteten besteht, gibt es weiterhin Stimmen, die der Versorgung von psychischen Erkrankungen Geflüchteter nur einen niedrigen Stellenwert zurechnen. Ihrer Auffassung nach, ist vorerst die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen relevant, da dies bereits zu einer weitreichenden Abnahme der Prävalenz von PTBS und anderen psychischen Erkrankungen führen würden. Vermutlich ist dies in Teilen richtig, doch sollte man daraus nicht schließen, dass ein Blick auf die Therapie psychischer Erkrankungen nutzlos sei. Stattdessen ist er wesentlich, um den Teufelskreis institutioneller Diskriminierung zu durchbrechen. Psychische Erkrankungen sind vor dem Hintergrund von Flucht ein Risikofaktor für Armut und erschweren auch den Weg aus bereits bestehender Armut.

Warum jetzt handeln?

Fest steht also auch hier in Europa: Wir müssen etwas tun! Nicht nur, weil eine adäquate Versorgung von Geflüchteten ein unantastbares Grundrecht sein muss, sondern auch aus eigenem Interesse. Die Auswirkungen von Traumatisierung und Gewalterfahrungen auf die Psyche behindern die erfolgreiche Integration im Gastland in vielerlei Hinsicht. Trauma kann zu kognitiven, emotionalen und körperlichen Einschränkungen führen. Das erschwert nicht nur das Erlernen der Sprache des Gastlandes, sondern stellt auch eine Belastung für das Gesundheitssystem dar, die durch Prävention oder frühzeitige Behandlung verhindert werden könnte. Dabei ist auch die Einwanderungspolitik selbst maßgeblich an der Entstehung von psychischen Erkrankungen beteiligt. Restriktive Bedingungen wie Einschränkungen der Fortbewegungsfreiheit oder ein Arbeitsverbot können sich negativ auf den Gesundheitszustand Geflüchteter auswirken.

Humanitäre Organisationen, Einwanderungs- und Gesundheitspolitik müssen also Hand in Hand arbeiten, um die aktuelle Situation rasch und nachhaltig zu verbessern! Um es in den Worten von Reem Mussa, Menschenrechtsexpertin und einer der AutorInnen des neuesten Berichts von Ärzte ohne Grenzen zur Lage an den europäischen Außengrenzen zu sagen:

Es ist noch nicht zu spät für Mitgefühl und gesunden Menschenverstand

Reem Mussa

Mehr zum Thema:

  • Bericht von MSF zur Lage an Europas Aussengrenzen – hier
  • Stellungnahme der Leopoldina zur Situation traumisierter Geflüchteter – hier
  • SelfHelp plus der WHO erklärt – hier

Literaturquellen:

  1. MSF. (2021a, Juni). CONSTRUCTING CRISIS AT EUROPE’S BORDERS. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/sites/germany/files/msf-report-greece-constructing-crisis.pdf
  2.  MSF. (2021b, Juni 10). Report von Ärzte ohne Grenzen zeigt Ausmaß politisch verursachten Leids auf griechischen Inseln [Pressemeldung]. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/griechenland-report-politisch-verursachtes-leids
  3. Tol WA, Leku MR, Lakin DP, et al. Guided self-help to reduce psychological distress in South Sudanese female refugees in Uganda: a cluster randomised trial. Lancet Glob Health. 2020;8(2):e254-e263. doi:10.1016/S2214-109X(19)30504-2
  4. Charlson F et al. New WHO Prevalence Estimates of Mental Disorders in Conflict Settings: A Systematic Review and Meta-Analysis. The Lancet 2019; 394(10194): 240-248. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(19)30934-1.
  5. (Silove D, Ventevogel P, Rees S. The contemporary refugee crisis: an overview of mental health challenges. World Psychiatry. 2017;16(2):130-139. doi:10.1002/wps.20438)
  6. Jong, Joop & Komproe, Ivan & Ommeren, Mark. (2003). Common mental disorders in postconflict settings. Lancet. 361. 2128-30. 10.1016/S0140-6736(03)13692-6.
  7. Skolnik, R. L. (2020). Global health 101.
  8. “Refugee Camp Definition and Statistics: USA for UNHCR.” Refugee Camps | USA for UNHCR, www.unrefugees.org/refugee-facts/camps/.
  9. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2018):Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig. Halle (Saale).
  10. Keller, A.M., Hajji, R. Die psychische Gesundheit von Geflüchteten in Deutschland. Präv Gesundheitsf (2021). https://doi.org/10.1007/s11553-021-00833-0

Bildquellen

  1. https://www.unhcr.org/figures-at-a-glance.html
  2. WHO 2014.
  3. https://yaleglobalhealthreview.com/2016/02/20/mental-health-of-syrian-refugees-in-jordan/