Um reproduktive Rechte in einen umfassenden Kontext einordnen zu können, ist es zunächst wichtig, sich der Definitionen des Begriffs bewusst zu werden.
Reproduktion wird im Duden vorwiegend als der Vorgang der Vervielfältigung beschrieben, speziell im sexuellen Kontext als “Fortpflanzung”, also der Zeugung eines oder mehrerer Kinder [1]. Dem folgend wären reproduktive Rechte, diejenigen, welche der Erhaltung und der sicheren Ausführung von reproduktiven Vorgängen dienen.
Tatsächlich sind reproduktive Rechte aber weitaus umfangreicher als Menschenrechte zu verstehen.Diese sind unabdingbar notwendig, um die “reproduktive Gesundheit” aller Menschen gleichermaßen zu gewährleisten.
“Reproduktive Gesundheit” wird von der World Health Organization (WHO) nach der International Conference on Population and Development (ICPD) wie folgt definiert: “Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur der Abwesenheit von Erkrankung oder Gebrechen in allen Arten, die sich auf das reproduktive System und dessen Funktion und Prozessen beziehen” [2]. Dies bedeutet, dass allen Menschen ein erfülltes und sicheres Sexualleben mit selbstbestimmter Verhütung und Zeugung von Kindern zugesichert wird. Dazu müssen unter anderem folgende Bedingungen erfüllt werden:
- Recht auf Information
- Zugang zu sicheren und angemessenen Verhütungsmitteln
- umfassende Gesundheitsversorgung während Schwangerschaft und Entbindung, sowie im Anschluss
Reproduktion im völkerrechtlichen Sinne umfasst folglich, über die eigentlichen Zeugung hinaus, auch die körperliche Unversehrtheit, individuelle Sexualität, Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge nach Entbindungen oder Schwangerschaftsabbrüchen [3].
Diesen wichtigen Meilenstein zu reproduktiver Gesundheit und entsprechenden Rechten bildete 1994 die International Conference on Population and Development in Kairo [4]. Über 179 Regierungen nahmen teil und unterschrieben das “Programm of Action”, welche die besonderen Bedürfnisse der Bevölkerung hinsichtlich sexueller und reproduktiver Freiheiten und Sicherheit berücksichtigen [5].
Aufgrund der biologischen Gegebenheiten und der sozialen Anforderungen, nehmen Mädchen und Frauen hier eine besondere Rolle ein. Daher bemühen sich viele Punkte des Programm of Action um einen sicheren und realitätsnahen Umgang mit Verhütungsmitteln, Information und medizinischer Versorgung.
Allerdings bleibt weiterhin zu bedenken, dass sich einige Aspekte reproduktiver Gesundheit und Rechte speziell auf das biologische Reproduktionsorgan beziehen und daher der Begriff “Frauen” unvollständig ist. Immer noch werden LGBTQIA* Personen nicht ausreichend eingeschlossen und ihre Rechte nicht frei von Diskriminierung sichergestellt [6].
Schwangerschaftsabbruch als reproduktives Recht
Nachdem zuvor auf die allgemeine Definition und Verankerung von reproduktiven Rechten eingegangen wurde, richten wir den Fokus nun auf das Recht auf Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen. Die Tragweite dieses Rechts zeigt sich insbesondere in Bezug auf selbstbestimmte Familienplanung. Sie ist die Voraussetzung für das Wahrnehmen anderer Rechte wie zum Beispiel das Recht auf Bildung, finanzielle Sicherheit und Chancengleichheit. Der uneingeschränkte Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ist schlussendlich ein Indikator für die Geschlechtergerechtigkeit in einer Gesellschaft [3].
Fünf Fakten zu Beginn… [7]
- Zwischen 2015 und 2019 wurden weltweit im Durchschnitt 73,3 Millionen Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr durchgeführt. [8]
- 3 von 10 (29%) aller Schwangerschaften und 6 von 10 (61%) aller ungewollten Schwangerschaften endeten im Schwangerschaftsabbruch. [8]
- Etwa 45% aller weltweiten Schwangerschaftsabbrüche im Zeitraum von 2010 bis 2014 fanden unter unsicheren Bedingungen statt. [9]
- Unsichere Schwangerschaftsabbrüche tragen jährlich zwischen 4,7% und 13,2% zur globalen Müttersterblichkeit bei. [10]
- Es entstehen jährlich Kosten von etwa 553 Millionen USD für die Behandlung von Komplikationen nach unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen. [11]
Wann ist ein Schwangerschaftsabbruch sicher bzw. unsicher?
Ein Schwangerschaftsabbruch gilt unter folgenden zwei Bedingungen als sicher: Es wird eine für die jeweilige Schwangerschaftsdauer von der WHO empfohlene Methode (medikamentös oder chirurgisch) angewendet und die durchführende Person ist für diese Art des Eingriffs professionell ausgebildet.
Ein Schwangerschaftsabbruch gilt als unsicher, wenn die durchführende Person nicht dafür qualifiziert ist und/oder die Umgebung, in der der Eingriff stattfindet, nicht minimalen medizinischen Standards entspricht. Es kommen dabei zum Beispiel spitze Gegenstände oder ätzende Substanzen zum Einsatz. [12]
Wie sieht die weltweite Verteilung von Schwangerschaftsabbrüchen aus und unter welchen Bedingungen finden sie statt?
Die folgende Graphik der WHO zeigt die Verteilung von Schwangerschaftsabbrüchen weltweit. Die Größe der Kreisdiagramme steht für die absolute Anzahl an Abbrüchen. Die Farben im Diagramm kennzeichnen die Bedingungen, unter denen die Eingriffe stattfinden: weiß = sicher, orange = weniger sicher, rot = am unsichersten.
Wie wirkt sich die Gesetzeslage auf die Sicherheit von Schwangerschaftsabbrüchen aus?
Ob das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Gesetzgebung der verschiedenen Länder festgeschrieben ist, nur unter bestimmten Umständen gewährt oder gar explizit eingeschränkt wird, unterscheidet sich weltweit sehr stark. Auch die tatsächliche Umsetzung in der Praxis variiert. Eines ist jedoch klar: Studien haben gezeigt, dass die Anzahl von Schwangerschaftsabbrüchen, unabhängig von der bestehenden Gesetzeslage, in etwa gleich hoch ist: 40 pro 1000 Frauen in Ländern mit grundsätzlich vorhandenem Zugang vs. 36 pro 1000 Frauen in Ländern mit eingeschränktem Zugang. Was sich allerdings unterscheidet, ist die Sicherheit des Eingriffs: In Ländern mit grundsätzlich vorhandenem Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen sind diese mehrheitlich sicher. In Ländern mit eingeschränktem Zugang (Verbot oder nur bei Gefährdung des mütterlichen Lebens) finden sie mehrheitlich unter unsicheren Bedingungen statt [12], [13].
Welche Folgen haben unsichere Schwangerschaftsabbrüche für die Betroffenen?
Unsichere Eingriffe stellen unmittelbare Gesundheitsrisiken für die Betroffenen dar, die neben physischen und psychischen Langzeitkomplikationen auch bis zum Tod führen können. Die bedrohlichsten möglichen Komplikationen sind: starke Blutungen, Infektionen und Verletzung des Genitaltrakts und innerer Organe.
Als Folge haben sie meist auch finanzielle Auswirkungen auf die Individuen und ihr Umfeld. Diese können zum Beispiel Behandlungskosten nach Komplikationen oder langfristige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit umfassen. [12]
Welche Barrieren verhindern den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen und wie können unsichere Eingriffe verhindert werden?
Die Barrieren sind:
- restriktive Gesetze
- schlechte Verfügbarkeit medizinischer Versorgung
- hohe Kosten (Betroffene mit weniger Einkommen haben ein höheres Risiko für einen unsicheren Schwangerschaftsabbruch)
- Stigma
- unnötige Voraussetzungen wie z.B. verpflichtende Wartezeit, verpflichtende Beratungen, verzögernde medizinische Diagnostik
Unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen könne durch folgende Maßnahmen verhindert werden:
- umfassende Sexualaufklärung
- Bereitstellung von bezahlbaren Verhütungsmitteln
- Zugang zu sicheren, legalen Schwangerschaftsabbrüchen [7]
Quellen
[1] https://www.duden.de/rechtschreibung/Reproduktion
[2] https://www.who.int/reproductivehealth/publications/general/lancet_1.pdf
[3]https://www.bpb.de/apuz/290797/reproduktive-gesundheit-und-rechte
[4] https://www.un.org/en/conferences/population/cairo1994
https://www.unfpa.org/events/international-conference-population-and-development-icpd
[7] https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/preventing-unsafe-abortion
[8] Bearak J, Popinchalk A, Ganatra B, Moller A-B, Tunçalp Ö, Beavin C, Kwok L, Alkema L. Unintended pregnancy and abortion by income, region, and the legal status of abortion: estimates from a comprehensive model for 1990–2019. Lancet Glob Health. 2020 Sep; 8(9):e1152-e1161. doi: 10.1016/S2214-109X(20)30315-6.
[9] Ganatra B, Gerdts C, Rossier C, Johnson Jr B R, Tuncalp Ö, Assifi A, Sedgh G, Singh S, Bankole A, Popinchalk A, Bearak J, Kang Z, Alkema L. Global, regional, and subregional classification of abortions by safety, 2010–14: estimates from a Bayesian hierarchical model. The Lancet. 2017 Sep
[10] Say L, Chou D, Gemmill A, Tunçalp Ö, Moller AB, Daniels J, Gülmezoglu AM, Temmerman M, Alkema L. Global causes of maternal death: a WHO systematic analysis. Lancet Glob Health. 2014 Jun; 2(6):e323-33.
[11] Vlassoff et al. Economic impact of unsafe abortion-related morbidity and mortality: evidence and estimation challenges. Brighton, Institute of Development Studies, 2008 (IDS Research Reports 59).
[12] https://www.who.int/health-topics/abortion#tab=tab_1
[13] Sedgh G, Bearak J, Singh S, et al. Abortion incidence between 1990 and 2014: global, regional, and subregional levels and trends. Lancet. 2016;388(10041):258-267. doi:10.1016/S0140-6736(16)30380-4
Bild 2: https://www.who.int/images/default-source/infographics/abortion/infographic-laws.jpg?sfvrsn=8fff954f_5
Bild 3: https://www.who.int/images/default-source/infographics/abortion/infographic-prevent-unsafe-abortion.jpg?sfvrsn=ffc05bb7_13