Was zum Geier?! – One-Health einfach erklärt

Der One-Health-Ansatz basiert auf dem Verständnis, dass die Gesundheit von Menschen, Tieren und Umwelt eng miteinander zusammenhängt. Im Zentrum des One-Health-Ansatzes steht die interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere zwischen Humanmedizin, Veterinärmedizin und Umweltwissenschaften, und der gemeinsame Versuch die Gesundheit von Menschen, Tieren und Ökosystemen in ein nachhaltiges Gleichgewicht zu bringen. Essenzielle Schnittstellen von One Health finden sich zwischen Menschen, Nutz- und Haustieren, Wildtieren und den Ökosystemen, in denen sie leben [1].

Um dieses Konzept etwas greifbarer zu machen, betrachten wir das Beispiel des Geiersterbens in Indien. In den 1990er Jahren wurde auf dem indischen Subkontinent das Mittel Diclofenac in der Veterinärmedizin populär. Es war günstig und einfach einzusetzen, und fand vor allem in der Rinderhaltung Anwendung. Doch trotz medikamentöser Behandlung kam es ab und an vor, dass eine Kuh starb – allerdings stellt das ein Problem dar: der Verzehr von Rindfleisch ist in Indien aus religiösen Gründen mit einem Tabu belegt. Wer entsorgt also die Überreste der Rinder – richtig, Geier. Was niemand ahnen konnte: das akkumulierte Diclofenac in den Rindern, die von den Geiern verzehrt werden, löst bei ihnen ein tödliches Nierenversagen aus. Das hatte gravierende Folgen, denn vor der Einführung von Diclofenac in der Rinderzucht war der Himmel über Indien der Lebensraum von ca. 80 Millionen Geiern, heute 30 Jahre später sind die Tiere vom Aussterben bedroht [2] Im Kreislauf der Natur spielen Geier nicht nur auf dem indischen Subkontinent eine Schlüsselrolle: sie beseitigen Tierkadaver inklusive Knochen restlos, somit verhindern sie eine auch Ausbreitung von Tierseuchen und führen darüber hinaus wichtige Nährstoffe wieder in das Ökosystem zurück.

Was passiert also, wenn die Geier nicht mehr da sind? Eine direkte Folge ist die Ausbreitung der Viruserkrankung Tollwut. Da Tierkadaver nicht mehr von Geiern „aufgeräumt“ werden, sondern einfach in der Landschaft verbleiben, stellen sie eine wesentliche Nahrungsquelle für verwilderte
Haushunde und Ratten dar. Diese können sich ideal vermehren und die Zahl der potenziellen Tollwut-übertragenden Tiere steigt. Die Zahl der Hunde nahm laut Anil Markandya von der University of Bath 1992 bis 2010 um ca. 5,5 Millionen Tiere zu, dadurch wurden auch die Angriffe
auf Menschen häufiger [3]. So kommt es, dass jährlich allein in Indien um die 20000 Menschen an Tollwut sterben [4]. Doch das Geiersterben hat nicht nur medizinische Folgen, sondern auch kulturelle. Seit über 3000 Jahren existiert die Religionsgemeinschaft des Zoroastrismus, die für Verstorbene eine Himmelsbestattung vorsieht. Die Toten werden auf sogenannte Dakhmahs („Türme des Schweigens“) gebracht, die oben geöffnet sind, und dienen dort aasfressenden Raubvögeln als Nahrung [5]. Durch das Aussterben der Geier ist diese Art der Bestattung nicht mehr möglich, dadurch geht nicht nur die kulturelle, soziale und religiöse Bedeutung der Dakhmahs verloren, sondern auch ein alter Teil menschlicher Kultur.

Auch Europas Geierpopulationen geraten zunehmend in Gefahr. Nach der Zulassung von Diclofenac für die Veterinärmedizin 2013 wurde 2021 der erste Tod bei einem Mönchsgeier in Spanien, verursacht durch das Medikament, nachgewiesen [6]. Dabei hatte sich die Altweltgeierpopulation in Europa in den letzten Jahrzehnten deutlich erholen können. Verschiedene Rückschläge, nicht nur die Zulassung von Diclofenac, sondern auch das Verbot, Kadaver von Tieren in der Natur zu belassen oder in sogenannte Geierrestaurants zu bringen und dadurch die Nahrungsversorgung sicherzustellen, gefährden die Geier in ihrem Lebensraum. Nichtsdestotrotz ist Diclofenac nach wie vor in Europa zugelassen, wodurch sich die Europäische Union selbst ihren eigenen Bestimmungen zu Artenschutz und Erhalt bedrohter Vogelarten widersetzt. Wagt man einen Blick nach Indien, stellt man fest, dass es eine Alternative zu Diclofenac gäbe, die sich als sicher und simpel in der Anwendung erwiesen hat – Meloxicam. Auch in Studien konnte gezeigt werden, dass Meloxicam keine letalen Auswirkungen auf Geier hat [7].

Ansätze zur Bewältigung des Massensterbens von Geiern im Sinne des One-Health-Konzepts in Indien können die Förderung von sicheren und wirksamen Alternativen zu Diclofenac in der Tierhaltung, die Umsetzung von Geierschutzprogrammen und die Überwachung der Gesundheit von Tieren und Menschen in betroffenen Gebieten umfassen. Durch die Anerkennung der Zusammenhänge zwischen Menschen, Tieren und der Umwelt können One-Health-Ansätze dazu beitragen, die Gesundheit und das Wohlbefinden aller zu fördern.


QUELLEN

[1] https://www.bmz.de/de/themen/one-health

[2] https://www.spiegel.de/panorama/artensterben-in-indien-wenn-s-der-geier-nicht-holt-a-1078871.html

[3] Montira J. Pongsiri, Joe Roman, Vanessa O. Ezenwa, Tony L. Goldberg, Hillel S. Koren, Stephen C. Newbold, Richard S.
Ostfeld, Subhrendu K. Pattanayak, Daniel J. Salkeld “Biodiversity Loss Affects Global Disease Ecology,” BioScience, 59(11),
945-954, (1 December 2009)

[4] G. Gongal, A. E. Wright: Human Rabies in the WHO Southeast Asia Region: Forward Steps for Elimination. In: Advances in
Preventive Medicine. Band 2011, (Article ID) 383870, 201

[5] Vendidâd 6, 45 und 8, 23–25

[6] https://www.spektrum.de/news/medikament-diclofenac-toetet-moenchsgeier/185712

[7] https://www.spektrum.de/kolumne/europaeische-politik-gefaehrdet-das-ueberleben-unserer-geier/1252701